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Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Titel: Wehe Dem, Der Gnade Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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verstehe, Doktor«, sagte Butts, und man hörte ihm an, was er von der Geschichte hielt. »Unter Hypnose fällt Ana Watkins wieder ein, dass sie missbraucht wurde, aber nicht von wem?«
    »Ganz recht«, erklärte Perkins gefasst. »Das sind komplexe Prozesse, Detective. Manchmal kehrt die Erinnerung sofort vollständig zurück, manchmal bleibt sie immer bruchstückhaft. Wir hatten gerade angefangen erste Fortschritte zu machen, aber ich bezweifle nicht, dass die arme Ana die Tür zur Vergangenheit noch ganz aufgestoßen hätte.«
    »Die Tür zur Vergangenheit, so, so«, sagte Butts. Lee fand, es war Zeit einzugreifen, bevor Butts Perkins noch so verärgern würde, dass er keine Fragen mehr beantwortete.
    »Dann haben Sie also keine Ahnung, wer sie verfolgt haben könnte?«, erkundigte er sich schnell.
    Perkins hob hilflos die Hände. »Ich wünschte bei Gott, ich könnte Ihnen da helfen, aber sie hat niemals tatsächlich jemanden gesehen, der sie verfolgt hätte.«
    »Halten Sie es für möglich, dass die Sache etwas mit Ihrem therapeutischen Durchbruch zu tun haben könnte?«, wollte Butts wissen.
    »Auch das weiß ich nicht«, antwortete Perkins. »Ana war der Meinung, aber ich glaube, das war eher ein Ausdruck ihrer paranoiden Störung, die immer sehr ausgeprägt war.«
    »Was ist mit Ihren anderen Patienten?«, fragte Lee. »Hat einer von denen gewalttätige Tendenzen?«
    »Ich fürchte, das ist vertraulich«, sagte Perkins. »Obwohl ich natürlich meiner Pflicht nachkommen und mich an die zuständigen Stellen wenden würde, wenn ich jemanden für gefährlich hielte.«
    »Das ist aber kürzlich nicht geschehen?«, fragte Lee.
    »Nein, während meines gesamten Berufslebens noch nicht. Und bei mir haben die Patienten auch keinerlei Kontakt miteinander, soweit ich das beurteilen kann.«
    In diesem Moment betrat eine Frau den Salon. Sie war ausgesprochen groß und dünn, hatte ein langes schmales Gesicht und seidiges braunes Haar, das sie zu einem Knoten zusammengesteckt hatte. Ihr Gesicht war nicht schön, aber dennoch attraktiv mit seinen großen dunklen Augen, hohen Wangenknochen und dem sinnlichen Mund. Die Frau war vollkommen ungeschminkt. Lee fand, dass sie Make-up auch nicht nötig hatte.
    Was sie anhatte, war so altmodisch wie Perkins’ Anzug. Sie trug ein weißes Kleid mit hohem Kragen und weiten Ärmeln, dazu Schnürstiefeletten aus Leder. Eigentlich sollte das Kleid wohl jeden Sexappeal unmöglich machen, erreichte aber genau das Gegenteil. Ihr ganzes Auftreten verriet eine zurückgenommene Erotik, die ausgesprochen reizvoll war. Hinter ihrer kühlen Maske verbirgt sich ein leidenschaftliches Wesen, dachte Lee.
    Alles an den Geschwistern und dem Haus, in dem sie lebten, erinnerte an eine hundert Jahre zurückliegende Epoche. Lee kam es vor, als ob er beim Überschreiten der Schwelle eine Zeitreise gemacht hätte.
    »Meine Herren, darf ich Ihnen meine jüngere Schwester vorstellen? Miss Charlotte Perkins«, sagte Perkins und nahm die Hand seiner Schwester. »Charlotte, Liebes, das sind Detective Butts und Mr Campbell.«
    »Angenehm«, sagte Butts, erhob sich vom Stuhl und verbeugte sich leicht, wie Lee amüsiert beobachtete. Er hatte noch nie erlebt, dass der sonst etwas ungehobelte Detective solche Manieren an den Tag legte. Doch dann stand auch er selbst auf und verneigte sich leicht. Etwas an Charlotte Perkins schien Männer zu größter Höflichkeit anzuhalten.
    »Sehr erfreut«, sagte sie und neigte leicht den Kopf.
    »Charlotte, die beiden Herren sind wegen einer Patientin von mir hier. Ich fürchte, sie … hatte einen bedauerlichen Unfall.«
    »Das tut mir wirklich leid«, sagte Charlotte. Sie sprach mit demselben Akzent der britischen Oberklasse wie ihr Bruder.
    »Vielleicht kennen Sie die fragliche Dame«, sagte Lee, selbst erstaunt, wie förmlich er sich plötzlich ausdrückte.
    »Sie hieß …«, begann Butts, doch Charlotte Perkins unterbrach ihn.
    »Ich habe nie Kontakt zu Martins Patienten«, sagte sie. »Wenn jemand zu einer Sitzung herkommt, bleibe ich in meinen Räumen.«
    Aus ihrem Mund klang es, als würde ihr Bruder keine psychologische Therapie durchführen, sondern Séancen veranstalten.
    Charlotte sah ihren Bruder an und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber Martin, hast du unseren Gästen keinerlei Erfrischungen angeboten?«
    »Lieber Himmel, bitte um Verzeihung!«, rief Perkins und eilte zu der Tür, durch die seine Schwester eben den Salon betreten hatte.
    »Nein, machen

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