Wehe Dem, Der Gnade Sucht
Ein paar Meilen weiter erkannten sie es. Es befand sich auf einem winzigen Hügel mit Ausblick auf das umliegende Weideland und sah aus wie alle alten Farmhäuser hier in der Gegend. Abgesehen von dem gelben Absperrband, das vom Briefkasten bis zur riesigen Eiche im Vorgarten gespannt war.
Lee parkte am unteren Ende der langen Auffahrt. Dann stiegen er und Butts aus und gingen den Hügel hinauf. Die Auffahrt schien kürzlich mit frischem Kies aufgeschüttet worden zu sein. Die glänzenden schwarzen Kiesel knirschten unter ihren Füßen. An der Tür stand ein Polizist Wache – ein Kollege von der Truppe in New Jersey in graublauer Uniform.
Er kam ihnen auf halbem Weg entgegen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er und beschirmte die Augen gegen die Sonne.
»Detective Leonard Butts, NYPD«, sagte Butts und wies sich aus. »Das ist mein Kollege Dr. Campbell.«
Lee lächelte. Wahrscheinlich wollte Butts den Polizisten mit dem Doktortitel beeindrucken, was aber gar nicht nötig war. Der war nämlich fast noch ein Junge. Sein blasser Teint, das rote Haar und die kornblumenblauen Augen unterstrichen diesen unschuldigen Eindruck noch. Er erinnerte Lee an den frühen Max von Sydow – der war auch ein so auffallend nordischer Typ gewesen.
Der junge Mann stolperte auf den glatten Kieseln und lief tiefrot an.
»Lars Anderson, von der New Jersey State Police«, stellte er sich vor und streckte Lee die Hand hin. »Man hat mir gesagt, dass Sie kommen.«
Lee schüttelte ihm die Hand. Anderson machte einen freundlichen und aufgeschlossenen Eindruck. Das konnte nicht schaden, andernfalls hätte diese ohnehin nicht einfache Untersuchung noch schwieriger werden können. Obwohl man sich unter Polizisten natürlich immer als Kollegen betrachtete, gab es zwischen den Einheiten verschiedener Staaten auch immer ein Konkurrenzverhältnis. Das war nicht wegzudiskutieren. Insbesondere wenn sich die Zuständigkeiten überlappten. Bei der Polizei gab es fast nur Alphatiere, die nicht gewillt waren, jemand anderem Platz zu machen. Im Dienst mussten sie oft schnell reagieren, ohne lange nachzudenken. Das war bei akuter Gefahr natürlich ein Vorteil, aber wenn es Ärger unter Kollegen gab, konnte genau das zum Problem werden. Da war die Wut dann stärker als die Ratio, und es gab Streit.
Doch Officer Anderson wirkte eher erfreut über Lees und Butts’ Anwesenheit. Bestimmt war es ziemlich einsam und langweilig, hier allein Wache zu stehen, überlegte Lee. Anderson führte die beiden zum Haus.
»Ihre Spurensicherung war schon heute Vormittag hier«, sagte er und ging die Stufen zur Veranda hinauf. »Ich weiß aber nicht, ob die etwas gefunden hat, was hilfreich sein könnte.«
»Ist wohl noch ein bisschen früh, um das genau zu sagen«, erwiderte Butts. Dann nahmen er und Lee sich zwei Paar grüne Plastikhandschuhe aus der Packung, die Anderson ihnen hinhielt. Zwar war die Spurensicherung schon fertig, aber man konnte nicht vorsichtig genug sein. Die Eingangstür war nicht abgeschlossen und quietschte, als Anderson sie öffnete.
Das Zimmer dahinter war so leer, dass es Lee erst vorkam, als hätte hier überhaupt niemand gewohnt. Dann aber fielen ihm doch einige persönliche Dinge auf: die grüne Vase mit dem getrockneten Blumenstrauß auf dem Fensterbrett, ein Kinderstuhl aus Holz in der Ecke neben dem Kamin. Das hier war ganz offensichtlich einmal das Wohnzimmer der Familie gewesen. Doch als Lee und Butts hinter Anderson die Küche betraten, wurde klar, dass sie das eigentliche Zentrum des Hauses war. Hier herrschte ein fröhliches Durcheinander. Vor jedem der drei Fenster hingen Kräuter zum Trocknen. In dem in die Wand eingelassenen Bücherregal standen zahlreiche fleckige Kochbücher, und auf den Regalen über dem Herd stapelten sich handgemachte Keramikteller und Becher in allen Formen und Farben.
Ein bunter Wollteppich bedeckte fast den gesamten Holzboden, der aus den gleichen weiß gestrichenen Dielenbrettern bestand wie im Rest des Hauses. Ein türkisfarbener Küchentisch stand in einer Ecke. Die Wände waren sonnengelb gestrichen. Der alte runde Ofen beheizte die Küche im Winter, daneben lag aufgestapeltes Holz. Die beiden Stühle vor dem Tisch sahen aus, als hätte gerade eben noch jemand darauf gesessen. Lee gab der Gedanke einen Stich. Doch bestimmt war es nicht Ana, die hier zuletzt vom Tisch aufgestanden war, sondern Officer Anderson.
»Die Spurensicherung hat lange in der Küche gearbeitet«, sagte der Officer. »Die
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