Wehe Dem, Der Gnade Sucht
aus erster Hand, welche Auswirkungen Gewalttaten nicht nur auf das Opfer, sondern die gesamte Familie hatten.
Gähnend rieb sie sich die Augen. Dann klingelte es auf ihrer Leitung.
»Polizeilicher Notruf, was kann ich für Sie tun?«
Die Stimme klang sanft, fast wie gehaucht. »Ich würde gern einen betrunkenen Autofahrer melden.«
Tanika glaubte, dass es die Stimme eines Mannes war, konnte es aber nicht mit Sicherheit sagen. Sie richtete das Headset und schob das Mikro dichter vor ihre Lippen.
»Wo sind Sie denn?«
»Christopher Street Ecke Greenwich.«
»Ist jemand verletzt?«
»Noch nicht, aber der Fahrer war wirklich sehr betrunken.«
»Können Sie mir den Wagen beschreiben?«
»Ich kann Ihnen sogar das Kennzeichen nennen.«
»Geben Sie es bitte durch.«
Er beschrieb den Wagen und gab das Kennzeichen durch. Tanika bat den Anrufer, die Angaben noch einmal zu wiederholen. Sie schrieb sie beide Male auf, nur um ganz sicherzugehen.
»Ich gebe das an die Kollegen in der Gegend weiter. Möchten Sie uns noch sagen, wer Sie sind?«
»Nein, lieber nicht.«
»Dann danke ich für Ihren Anruf.«
»Gern.« Der Fremde legte auf.
Tanika leitete sofort alle Angaben an das 11. Revier im West Village weiter. Sie wusste zwar nicht, wie man dort weiter vorgehen würde, hoffte aber, dass die Kollegen den Mistkerl erwischten. Sie hasste betrunkene Autofahrer. In ihrer Nachbarschaft war vor Kurzem ein niedliches elfjähriges Mädchen von einem Betrunkenen totgefahren worden, und Tanika ging jeden Tag an dem Holzkreuz und den Blumen am Ort des Unfalls vorbei. Manchmal kaufte sie einen kleinen Strauß und legte ihn neben die Stofftiere und Packungen mit Gummibärchen. Sie selbst hatte eine kleine Schwester und mochte sich gar nicht ausmalen, was sie täte, wenn ihr so etwas passieren würde.
Beim Blick ins Buch musste Tanika schon wieder gähnen. Sie schaute noch einmal zur Wand. Elf Uhr siebenunddreißig.
KAPITEL 27
Böser Junge! Du bist ein böser, böser Junge und verdienst es, bestraft zu werden. Dachtest du wirklich, du kannst mich so demütigen, und ich lasse mir das einfach gefallen? Warte, dir werde ich eine Lektion erteilen! Die müssen früher oder später alle bösen Jungs lernen.
Caleb stellte den Empfang so ein, dass er den Polizeifunk abhören konnte, bis er den Funkspruch von Wagen 85 einfing. Als er hörte, was der Polizist mit gleichgültiger Stimme ans Revier meldete, lächelte er.
»Vermutlich betrunkener Fahrer festgenommen, wird ins Tombs-Gefängnis verbracht. Beifahrer ebenfalls alkoholisiert, Auto wird beschlagnahmt.«
Caleb lehnte sich auf dem Sitz zurück und den Kopf gegen die Stütze. Joe würde die Nacht im Gefängnis verbringen und am Morgen ausgenüchtert entlassen werden. Und wenn er dann mit seinem Kater und einem schlechten Gewissen hinaus in die Sommersonne trat, würde er schon auf ihn warten.
KAPITEL 28
George Favreau war ein blasser, unauffälliger Mann, in grauen Hosen und einem blauen Nadelstreifenblazer. Ruhig, kooperativ, höflich. Der Inbegriff von Harmlosigkeit, was durch seine sanfte Stimme noch unterstrichen wurde.
Während sie darauf warteten, dass Chuck sein Telefongespräch beendete, beobachtete Lee Favreau durch eine verspiegelte Scheibe. Favreau saß geduldig da und spielte mit dem Anhänger seiner Kette. Es war eine St.-Christopherus-Plakette. Ein wenig nervös schaute er sich dann im Zimmer um und fixierte die Tür.
Schließlich kam Chuck. Er durchquerte eilig den Flur. Butts folgte ihm und musste sich anstrengen, um Schritt zu halten. Beide hatten ihre Kaffeebecher dabei.
»Also, bringen wir es hinter uns«, sagte Morton. Es war Samstag, und Lee wusste, dass sein Freund es hasste, am Wochenende arbeiten zu müssen. Aber bei diesen Ermittlungen durften sie keine weitere Zeit mehr verlieren. Favreaus Haus war durchsucht worden, weil er manchmal im Swan zum Essen ging – und weil er ein verurteilter Sexualverbrecher war. Eine Überprüfung der Datenbank hatte das ergeben.
Die drei betraten den Raum. Lee hatte Favreau einen Kaffee mitgebracht. Butts zwinkerte Lee zu, weil er wohl vermutete, dass er den Mann einwickeln wollte. Tatsächlich tat der arme kleine Kerl Lee aber einfach nur leid. Er hatte seine Akte gelesen: Favreau hatte seine Zeit im Gefängnis abgesessen und jedes nur mögliche Therapieangebot genutzt. Sein Bewährungshelfer hatte ausgesagt, dass der Mann echte Reue für seine Taten empfand. Lee zweifelte nicht daran. Auf ihn wirkte Favreau wie
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