Wehe Dem, Der Gnade Sucht
bisschen durch die Gegend gelaufen?«, wiederholte Butts. »Haben Sie vielleicht jemanden dabei getroffen?«
Favreau schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe einige der Sicherheitsleute erkannt, aber mich zu sehr geschämt, um sie zu grüßen. Als Sexualstraftäter überführt zu werden, verpasst dem Selbstbewusstsein einen ziemlichen Knacks, wie Sie sich vorstellen können.«
»Nein, kann ich nicht. Woher auch«, erwiderte Butts eisig. »Und wie lange haben Sie sich auf dem Campus aufgehalten?«
»Mindestens eine Stunde. Damit verstoße ich ja wohl nicht gegen das Gesetz. Wir leben immer noch in einem freien Land. Jedenfalls waren die USA das, bis wir Bush zum Präsidenten gewählt haben. Seitdem sind unsere Bürgerrechte Vergangenheit. Genau wie meine berufliche Karriere.«
Lee war sich nicht sicher, ob Favreau das alles einstudiert hatte – er schien jedenfalls mit ihnen zu spielen, erging sich wohlig im Selbstmitleid und brillierte mit geistreichen Bemerkungen. Als würde er vor Publikum auftreten. Und er genoss es sichtlich. Andererseits war das kein Wunder: Ein Mensch, der für den Lehrberuf geboren war, hatte immer auch schauspielerisches Talent. Und Favreau war vor seiner Verhaftung ein sehr beliebter Professor gewesen. Bei Studenten und Kollegen gleichermaßen.
War also seine angebliche Reue nur vorgespielt, um den Bewährungshelfer zu beeindrucken? Lee nahm sich vor, Chuck dazu zu raten, Favreau doch nicht gleich von der Liste der Verdächtigen zu streichen.
Am Ende ergab die ganze Befragung keinen konkreten Hinweis auf eine Beteiligung Favreaus an den Morden. Sein Alibi im Kino war nicht wasserdicht, weil ihn niemand gesehen hatte. Wenn Favreau sich für den Abend ein Alibi hätte verschaffen wollen, wären andere Möglichkeiten effektiver gewesen. Dieser Mann war schwer zu durchschauen – und bei seinem IQ der Polizei vielleicht gedanklich immer einen Schritt voraus.
KAPITEL 29
Am Sonntag brach Lee schon früh auf, um zu seiner Mutter zu fahren. Seine Nichte hatte Geburtstag, und sie feierte bei ihrer Großmutter.
Während er durch die grüne, hügelige Landschaft fuhr, dachte er an die Opfer des Serienkillers. Was mochten sie wohl gemeinsam haben? Auf den ersten Blick wollte einem nichts auffallen. Dennoch musste es eine Verbindung geben – das war bei diesen Verbrechen immer so. Wenn man das Muster erst durchschaut hatte und begriff, wie die Puzzleteile zusammenpassten, lernte man dadurch viel über die Persönlichkeit des Mörders. Doch dieser Täter blieb schemenhaft wie ein Geist. Er verbarg sein Muster … oder hatte er wirklich keines? War genau das sein eigentliches Merkmal? Die Wahllosigkeit, mit der er sich sein neues Opfer aussuchte?
Lee fuhr auf die Auffahrt vor dem Haus seiner Mutter. An der Laterne am Ende des Kieswegs hingen violette und weiße Luftballons. Er musste lächeln. Violett war Kylies neue Lieblingsfarbe. Pink war seit ein paar Monaten out, weil sie das nun zu Mädchen fand. Lee parkte den Wagen. Sofort flog die Haustür auf, und seine Nichte kam, gefolgt von zwei anderen kleinen Mädchen, nach draußen gerannt.
»Onkel Leeee!«, rief sie und warf sich in seine Arme, als er ausstieg.
Ihre beiden Freundinnen ahmten sie nach, schrien ebenfalls lauthals: »Onkel Lee!«, und umklammerten seine Beine. Er tat, als hätte er das gar nicht bemerkt und machte ein paar Schritte, während die beiden an ihm hingen wie die Kletten. Kylie sprang aufgeregt neben ihm her.
»Das sieht so komisch aus!«, quiekte sie vergnügt, während er mühsam einen Fuß vor den anderen setzte. Ihre Freundinnen bekamen einen Lachanfall und konnten sich nicht mehr festhalten.
»Du bist lustig«, sagte die Kleinere der beiden. Sie war ein winziges Menschenkind mit schwarzem Haar und einem niedlichen Pony, der ihr in die Augen fiel.
»Willst du mich denn gar nicht vorstellen?«, fragte Lee seine Nichte.
»Das ist Angelica«, sagte Kylie und zeigte auf das Mädchen mit dem schwarzen Haar. »Und das ist Meredith.«
Meredith war kein besonders hübsches Kind. Sie war deutlich größer als Angelica und Kylie, blass, hatte wildes rotes Haar, blaue Augen und ein ernstes Gesicht. »Hallo«, sagte sie zu Lee und musterte ihn, als wäre er ein besonders interessantes Insekt. »Sie sind der Profiler, oder?«
Lee fand Meredith entschieden zu altklug.
»Stimmt, ich arbeite für die Polizei.«
Meredith trat einen Schritt zurück, um ihn sich besser ansehen zu können. Kylie und Angelica hingegen tanzten
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