Wehe Dem, Der Gnade Sucht
Hand in Hand neben ihnen her und summten irgendeine Melodie.
»Ich habe ein Buch über Profiler gelesen. Sehr interessant«, sagte Meredith. »Ich würde gern später auch mal Profiler werden.«
Lee lächelte. »Na ja, im Moment bist du dafür etwas zu jung. Du hast noch genug Zeit, dir einen Beruf zu überlegen.«
Meredith schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß immer ganz genau, was ich will.« Sie schaute ihn ernst an. »Ich bin nämlich ziemlich klug.«
»Das ist toll«, sagte er. Sie hatten das Haus erreicht.
»Lass sie reden«, sagte Kylie, nahm Merediths Hand und zog sie über den etwas abfallenden Rasen hinunter zum Eishaus. »Sie hält sich für ein großes Genie.«
»Tu ich nicht«, sagte Meredith. »Ich bin nur …« Doch Kylie hatte sich ins Gras geworfen und rollte den kleinen Abhang hinunter. Angelica machte es ihr sofort kichernd nach. Meredith stand einen Moment unentschlossen da, stemmte die Hände in die Seiten und schaute den beiden zu. »Also schön«, sagte sie dann resignierend, warf sich ins Gras und rollte den beiden hinterher.
Von unten drang heftiges Gekicher herauf. Die Mädchen waren im Gras liegen geblieben und bekamen vor Lachen kaum noch Luft. In ihrer Kleidung und den Haaren hingen Grashalme und kleine Zweige. Lee wollte die drei in ihrem Glück nicht stören und ging zu seiner Mutter auf die Veranda. Fiona war aus dem Haus gekommen und erwartete ihn dort.
»Hallo!«, rief sie ihm zu. »Wo steckt denn das Geburtstagskind?«
Lee zeigte auf die drei. Inzwischen waren die Mädchen wieder auf den Beinen und klopften sich noch immer lachend das Gras von den Kleidern.
Fiona gab ihrem einzigen Sohn einen flüchtigen Kuss auf die Wange und hielt ihn dann an den Schultern auf Armeslänge von sich weg.
»Wie schön, dass du kommen konntest«, sagte sie. »Für Kylie ist das sehr wichtig.« Fiona hätte niemals zugegeben, dass es ihr ebenfalls wichtig war.
Lees Mutter war groß und noch immer so schlank wie an dem Tag, als sie seinen Vater geheiratet hatte. Das von grauen Strähnen durchzogene dunkle Haar trug sie in einem kinnlangen Bob. Ihre Augen waren blau, ihr Blick klar und sie bewegte sich mit dem Selbstbewusstsein einer Frau, die noch nie an sich gezweifelt hatte.
Obwohl Verlust das große Lebensthema der gesamten Familie war, hatte Fiona Campbell sich schlicht geweigert, deshalb aufzugeben. Ja, sie leugnete, dass überhaupt etwas passiert war. In Lees Augen war das gleichermaßen lächerlich wie mutig. In ihrer Unbeugsamkeit hatte seine Mutter etwas von der Heldin einer griechischen Tragödie.
Er drehte sich um und sah, dass nun auch George Callahan aus dem Haus trat. Einem freundlicheren und geduldigeren Menschen als Kylies Vater war Lee nie begegnet.
»Hallo, George«, begrüßte Lee ihn und streckte ihm die Hand hin.
»Na, alter Junge!« George schüttelte sie heftig. Er war ein blonder, etwas schüchterner Hüne, der sich in größerer Gesellschaft meist unwohl fühlte. Wenn es irgendwelche Arbeiten am Haus gab, war er stets zur Stelle, aber für Small Talk fehlte ihm jedes Talent. Groß und breitschultrig war er eher ein Naturbursche und wirkte auf Cocktailpartys fehl am Platz. Er bediente lieber den Grill, wendete Burger und trank dazu ein kühles Bier. Heute trug er Jeans und ein weißes Hemd, und schien den ganzen Tag in der Sonne verbracht zu haben.
»Wie wäre es mit einem Bier?« Er zeigte mit dem Daumen in Richtung Küche. »Soll ich dir eins holen?«
»Ja, danke, gern.«
»Kommt sofort«, versprach George aufgekratzt. Er liebte es, für das leibliche Wohl anderer Leute zu sorgen, wenn er nicht mit ihnen reden musste.
Lees Mutter setzte sich auf eine der Liegen auf der Veranda. »Wir sind nur zu dritt heute. Am Montag feiert Kylie noch einmal mit all ihren Schulfreunden nach. George hat sich den Vormittag freigenommen und backt dann Kuchen.«
»Er ist ein großartiger Vater«, sagte Lee.
»Ja, das ist er.«
Mutter und Sohn schwiegen. Lee war sicher, dass sie dabei beide an dasselbe dachten – Laura. Daran, wie sehr sie sie vermissten und sich wünschten, sie könnte den siebten Geburtstag ihrer Tochter miterleben. George kehrte in dem Moment auf die Veranda zurück, als Kylie und ihre Freundinnen die kleine Anhöhe heraufkamen. Kylie und Meredith schleppten gemeinsam eine riesige Wassermelone, Angelica hüpfte neben den beiden her.
»Seht mal, was wir im Eishaus gefunden haben!«, rief Kylie.
»Die gibt es erst nach dem Abendessen«, erklärte Fiona
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