Wehe Dem, Der Gnade Sucht
ein aufrichtiger und bescheidener Mensch, dem die heimliche Arroganz eines Psychopathen abging. Der Mann mag gestört sein, aber ein Killer ist er nicht , dachte Lee.
Er wusste, dass es durchaus vorkam, dass Spanner irgendwann auch schlimmere Verbrechen begingen, aber bei diesem Mann … nein, er konnte sich das in Favreaus Fall einfach nicht vorstellen. Butts nahm Favreau gegenüber Platz, Lee und Chuck setzten sich links und rechts neben den Detective.
Favreau hatte den Blick gesenkt und musterte seine Hände. Sie waren klein und zart, mit sauberen gepflegten Nägeln. Lee konnte sich schwer vorstellen, dass diese Hände eine Frau umgebracht hatten – oder auch einen Mann. Bevor Favreau wegen seiner Sexualdelikte festgenommen worden war, hatte er als Professor zum Lehrkörper der Rutgers University gehört. Dass Ana dort ein Seminar besucht hatte, war wahrscheinlich reiner Zufall – wahrscheinlich.
»Also, Mr Favreau«, begann Butts die Befragung. »Wissen Sie, weswegen wir heute mit Ihnen sprechen wollen?«
Favreau schaute den Detective an und machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Vermutlich, weil sie im Trüben fischen, was diesen Serienmörder angeht. Ein unnützes Unterfangen, das lediglich dazu dienen dürfte, die Öffentlichkeit zu beruhigen und nicht untätig zu wirken.«
Lee sah zu Chuck, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Offensichtlich hatte er beschlossen, Butts die Befragung erledigen zu lassen. Lee war gespannt, welche Strategie der Detective wählen würde. Zu seiner Überraschung, ging der die Sache erst einmal ruhig an.
»Hören Sie, Mr Favreau, nur Sie allein wissen, ob Sie etwas mit diesen Verbrechen zu tun haben oder nicht. Sollten Sie also unschuldig sein, ist uns beiden geholfen, wenn Sie sich möglichst kooperativ zeigen. Umso schneller sind wir hier durch.«
»Klingt vernünftig«, sagte Favreau und wischte einen Krümel vom Tisch. Übertriebener Sinn für Ordnung und Sauberkeit , kontrolliertes Auftreten , dachte Lee. Genau wie unser Mörder .
Butts trank einen kräftigen Schluck Kaffee. »Sehr schön. Also, ich habe eigentlich nur ein paar ganz einfache Fragen an Sie. Okay?«
»Schießen Sie los«, sagte Favreau und lächelte Lee an. »Ach, und danke für den Kaffee.
»Gern geschehen.«
Butts schaute in seine Notizen. Lee wusste, dass das nur Show war. Der Detective hatte ein fast schon fotografisches Gedächtnis und ohne Zweifel jedes wichtige Detail im Kopf. »Wo waren Sie abends am zwanzigsten …«
»… August?«, komplettierte Favreau den Satz. »Ich weiß genau, was Sie von mir wissen wollen, Detective. Übrigens habe ich mir minutiös aufgeschrieben, was ich in jener Nacht gemacht habe, nachdem ich von dem Mord an dem armen Mädchen in der Zeitung gelesen hatte, weil ich schon ahnte, dass ich einer der Verdächtigen sein würde. Jedenfalls, wenn der Täter nicht schnell gefasst wird. Kein Vorwurf.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Sie machen ja nur Ihre Arbeit.«
»Okay«, sagte Chuck. »Dann machen wir also nur unsere Arbeit. Schön, dass Sie es so sehen. Sagen Sie uns jetzt bitte, was Sie in der Nacht gemacht haben?«
Favreau presste die Fingerspitzen seiner Hände gegeneinander. »Ich war im Kino. Ich bin ein großer Filmfan und sehe mir fast jeden Streifen an, sobald er rauskommt. Da können Sie jeden fragen, der mich kennt. Ist eine gute Ablenkung.«
»Und mit wem waren Sie im Kino?«, wollte Morton wissen.
Favreau lächelte. »Ich fürchte, ich war allein dort. Natürlich kann ich meine Eintrittskarte vorweisen. Unter gewissen Voraussetzungen kann man seine Kinobesuche steuerlich absetzen – wussten Sie das?«
Chuck ließ sich die Kinokarte zeigen. »Das Datum stimmt, aber an die Karte können Sie auch auf irgendwelchen Umwegen gekommen sein. Hat Sie zufällig irgendein Bekannter im Kino gesehen?«
»Das kann ich Ihnen nicht mit Sicherheit sagen. Es war sehr voll.«
Butts beugte sich nach vorne. »Vor dem Mord wurden Sie auf dem Campus der Rutgers University gesehen. Was haben Sie da gemacht?«
»Ich bin nur ein bisschen über den Campus spaziert und habe mich an bessere Zeiten erinnert. Früher habe ich dort Mathematik unterrichtet. Aber das ist Ihnen ja bestimmt bekannt. Zweifellos haben Sie meine Akte genau studiert. Doch wussten Sie auch, dass ich einen IQ von hundertfünfundsechzig habe? Wenn man den Experten glaubt, bin ich ein Genie. Leider hat mir das auch nichts geholfen.«
»Sie sind da also nur ein
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