Wehe Dem, Der Gnade Sucht
am liebsten sofort aufgesprungen, um sie zu entfernen, und konnte sich nur mit Mühe zurückhalten.
»Selbst wenn mich diese Frau gereizt hätte – was nicht der Fall war –, hätte ich niemals gegen meine Berufsehre verstoßen und eine Patientin missbraucht. Ich habe ihr lediglich geholfen, ihre Gedanken zu befreien und dann notiert, wohin sie sie führten. Wie kommen Sie eigentlich darauf?« Er verengte die Augen. »War der Mord an ihr sexuell motiviert?«
»Nein«, sagte Lee schnell. Er wollte Perkins so wenige Informationen über den Fall geben, wie es nur irgend ging. »Aber wir dürfen keine Möglichkeit ausschließen.«
»Verstehe.« Perkins musterte Lee. Denkbar, dass er ahnte, dass sein Besucher log. Lee setzte sein Pokergesicht auf – und hoffte, dass man ihm nichts anmerkte.
»Bestimmt begreifen Sie, wie schwierig unsere Ermittlungen sind«, fügte er hinzu.
Perkins lächelte. »Um nun Ihre ursprüngliche Frage zu beantworten, Detective. Ana war keine Heidin. Aber sie interessierte sich für die alte Religion, insbesondere da sie sich immer wieder an eine ihrer Wiedergeburten erinnerte.«
»Haben Sie ihre Vorstellungen in der Richtung unterstützt?«, wollte Butts wissen.
»Weder habe ich Ana ermuntert, noch versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Als ihr Therapeut war es nicht meine Aufgabe, ihr zu sagen, woran sie zu glauben hat. Vielmehr musste ich ihr bei der Suche nach der Wahrheit helfen.«
»Und wie gestaltete sich diese Hilfe bei der Suche nach der Wahrheit genau?«
»Wie bereits gesagt, hatte ich das Gefühl, dass sie kurz vor einem entscheidenden Durchbruch stand.«
»Passiert das oft?«, fragte Butts und beugte sich vor, sodass nun auch noch die Krümel von seiner Hose auf dem Boden landeten. »Ich meine, dass sich jemand an einen Missbrauch erinnert, aber nicht daran, wer ihm das angetan hat?«
»Das ist in keiner Weise ungewöhnlich, Detective«, antwortete Perkins mit einem gequälten Blick auf die Krümel, die den teuren Teppich verunstalteten. »Es ist immer wieder erstaunlich, wie tief manche Dinge in unserem Unterbewusstsein verborgen liegen. Manchmal gibt es sie nach Monaten oder gar erst Jahren plötzlich frei. Oder aber die Erinnerung kehrt nur in scheinbar zusammenhanglosen Bruchstücken zurück. Als Therapeut muss ich da auf alles vorbereitet sein.«
»In dem Punkt zumindest ähneln sich unsere Berufe«, bemerkte Butts.
Er lächelte freundlich, was Perkins mit einem Stirnrunzeln erwiderte. Vielleicht hatte er das Gefühl, der Detective würde sich über ihn lustig machen. Butts war ein hervorragender Ermittler und ein kluger Kopf. Er tat gern einfach und ungebildet. Dadurch fühlten sich viele Befragte sicher, weil sie glaubten, sie wären ihm überlegen. Und dann erwischte er sie eiskalt. So wie Perkins eben.
Ihr Gastgeber erhob sich und schaute auf seine goldene Taschenuhr.
»Liebe Güte«, sagte er. »Ich bitte wirklich vielmals um Entschuldigung. Ich gehöre zum Nachbarschaftsverein und muss in zwanzig Minuten zu einer Versammlung.« Er lächelte Butts zu. »Wie recht Sie doch haben, unsere Berufe sind sich tatsächlich ähnlich.«
»Nur noch eine Frage«, sagte Lee, als sie zur Tür gingen. »Dürften wir einen Blick in Ihre Patientenakten werfen? Nur falls Anas Mörder …«
»… einer meiner Patienten ist?«, vervollständigte Perkins den Satz. »Aber mein lieber Dr. Campbell, das halte ich nun wirklich für mehr als unwahrscheinlich. Bedauerlicherweise sehe ich mich auch ohne richterliche Anweisung nicht in der Lage, so einfach meine Schweigepflicht zu verletzen. Und ich vermute, dass Sie eine solche Anweisung nicht haben? Dann versuchen Sie doch am besten, eine zu erwirken. Viel Glück.« Er klopfte Lee väterlich auf die Schulter. Der schaute zu Butts, der ein Gesicht machte, als würde er gleich explodieren. Schnell schob Lee den Detective hinaus zum Auto, bevor der noch etwas sagen konnte – sie durften Perkins nicht völlig verärgern. Möglicherweise waren sie noch auf seine Kooperationsbereitschaft angewiesen.
Während der Fahrt dachte Lee darüber nach, wie elegant sich Perkins auch diesmal wieder aus der Affäre gezogen hatte. Sie hatten ihn gerade in die Ecke manövriert, da war er ihnen auch schon wieder entwischt. Frustrierend, aber Butts hatte mit solch schwer zu packender Beute bestimmt jede Menge Erfahrung und war daran gewöhnt. Leider waren ihnen ohne weitere stichhaltige Beweise schlicht die Hände gebunden.
Lee musterte den
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