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Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Titel: Wehe Dem, Der Gnade Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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wollte ablehnen, aber dann sah er, wie Butts’ Augen bei der Erwähnung des Kuchens zu leuchten begannen, und er nahm doch an. Sie setzten sich nach draußen auf die Veranda. Die beiden Mädchen boten sofort freiwillig an, einzudecken.
    Fiona deutete auf den runden, schmiedeeisernen Tisch mit Glasplatte.
    »Meine neueste Errungenschaft. Spätes 19. Jahrhundert«, sagte sie und wischte ein paar Blätter von der Glasplatte. »Ich will ihn nicht zerkratzen … Was machen wir denn da? Am besten nehmen wir die kleinen Strohmatten für die Teller. Die habe ich letzte Woche erst gekauft. Aber wo habe ich sie gelassen?«, überlegte sie laut. »Ach ja – die sind in dem Schrank, wo ich auch die Weihnachtsdekoration aufbewahre.«
    »Ich hole sie«, sagte Lee.
    Er ging hinein und stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich der Einbauschrank befand. Lee öffnete ihn und suchte unter den Schachteln mit den Weihnachtssachen. Ganz hinten im Schrank erkannte Lee plötzlich etwas, das aussah wie ein Buch mit einem grünen Ledereinband. Er zog es vorsichtig heraus – das Buch hatte er noch nie gesehen. Gespannt schlug er es auf und blätterte die ersten vergilbten Seiten um. Es war ein Album mit vielen Bildern von ihm und Laura – wie sie mit ihren Cousins spielten, wie sie Weihnachtsgeschenke öffneten, wie sie ihrer dicken Katze ein Babyjäckchen anzogen und wie sie im Swimmingpool ihrer Tante planschten. Es gab sogar Fotos von Fiona, aber keine von seinem Vater. Vielleicht hatte sie die verbrannt, nachdem er verschwunden war.
    Als er ungefähr in der Mitte des Albums angekommen war, fiel ein Blatt heraus. Lee bückte sich danach und sah es sich an. Es war eine Geburtsurkunde, ausgestellt zwei Jahre nachdem Laura geboren worden war.
     
    Beglaubigt vom Staat New Jersey
    Eltern: Duncan und Fiona Campbell
    Junge
    Und darunter: Totgeburt .
     
    Lee starrte auf die Urkunde. Er hatte bisher nicht einmal geahnt, dass er und Laura fast noch einen kleinen Bruder gehabt hätten. Seine Mutter hatte nie darüber gesprochen. Doch jetzt begriff er plötzlich alles.
    »Das war es also«, murmelte er.
    Er steckte die Urkunde zurück ins Album und legte es wieder an seinen alten Platz im Schrank. Warum seine Mutter all diese Jahre ein Geheimnis daraus gemacht hatte, verstand Lee nicht. Vielleicht wollte sie einfach kein Mitleid, oder es hatte mit der Trennung von seinem Vater zu tun.
    Doch was auch immer ihre Gründe dafür sein mochten, der Tod ihres zweiten Sohnes war offenbar ein Tabuthema. Seltsam, dass sie die Geburtsurkunde aufbewahrte, die gleichzeitig auch ein Totenschein war. Ob Fiona überhaupt wusste, dass sie sie noch hatte? Bestimmt. Sie war so überordentlich – das hatte sie sicher nicht einfach vergessen. Wahrscheinlich hatte sie unbewusst sogar gewollt, dass Lee die Urkunde fand.
    Endlich verstand er, weshalb seine Mutter alles tat, um ihre Gefühle zu unterdrücken. Wahrscheinlich glaubte sie, dass es sie einfach umbringen würde, wenn sie sich jemals erlaubte, ihren Schmerz und ihren Zorn bewusst zu spüren.
    Schließlich entdeckte Lee die Strohmatten, schloss die Schranktür und ging wieder nach unten. Es war schon Ironie des Schicksals: Jetzt hatten seine Mutter und er beide ein Geheimnis, das sie voreinander versteckten.

KAPITEL 38
    Im Jack Hammer wurde es langsam voll an diesem schwülen Freitagabend. Dabei war es noch ziemlich früh – nicht einmal neun Uhr. Am meisten los war sonst erst nach Mitternacht, aber die stickige Luft trieb die Leute aus ihren kleinen Wohnungen hinaus in die Nacht auf der Suche nach Abenteuern und Sex.
    Die Schwulenszene in der Christopher Street hatte sich seit der Aidskrise noch immer nicht vollständig erholt. In den letzten Jahren allerdings zog das Geschäft dank der neuen Behandlungsmöglichkeiten der Immunschwächekrankheit wieder an. Mochte es auch nicht mehr so sein wie früher, die Christopher Street war doch wieder die erste Adresse, wenn man etwas trinken wollte, tanzen und jemanden abschleppen. Das Jack Hammer war nicht der schickste Laden und nichts für zarte Gemüter. Hier ging es zur Sache, was den Reiz der Bar für gewisse Gäste durchaus steigerte.
    Das Publikum war ein Mix aus aufgepumpten Muskelmännern, Ledermuttis und Transen jeden Alters. Bier gab es an der Bar, Sex später als Hauptgang. Testosteron flirrte zusammen mit Zigarettenrauch durch die Bar und verfing sich unter der Lichtanlage über der Tanzfläche. Es war hell genug, um die schwitzenden Körper

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