Wehe Dem, Der Gnade Sucht
kleiden.«
»Jetzt, wo sie es erwähnen, ja, durchaus«, bestätigte Lee ernsthaft.
Perkins deutete auf zwei Porträts, die über dem Flügel hingen.
»Das sind wir«, bemerkte er ruhig. »Oder besser – das waren wir vor hundertfünfzig Jahren.«
Lee stand auf, um sich die Bilder anzusehen. Das eine zeigte einen attraktiven Mann in mittleren Jahren mit dichtem schwarzen Haar, hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Das Haar war mit Pomade zurückgestrichen. Kleine Locken an den Schläfen verrieten, dass das wahrscheinlich kein ganz einfaches Unterfangen gewesen war. Die Ähnlichkeit war so verblüffend, dass es genauso gut ein Porträt von Lee hätte sein können. Erstaunt sah der sich nun das Bild der Frau an. Zu seiner Erleichterung ähnelte sie niemandem, den er kannte. Sie hatte ein hübsches herzförmiges Gesicht, einen sinnlichen Mund und große, intelligente Augen. Lee drehte sich zu Perkins um, der ihm zulächelte.
»Zweifellos ist Ihnen die Ähnlichkeit zwischen Ihnen und Mr McLean nicht entgangen. Mir ist sie natürlich auch sofort aufgefallen, als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe. Vielleicht erklärt das die … besondere Verbindung zwischen uns beiden.«
Lee empfand zwar keinerlei Verbindung zu Perkins, nickte jedoch. Er wollte Perkins’ Redefluss nicht unterbrechen.
»Ist das einer Ihrer Vorfahren?«, fragte Butts. Lee war sicher, dass sich der Detective absichtlich dumm stellte.
»Kein Vorfahre, Detective«, berichtigte Perkins. »Es ist der Mann, dessen Seele nun in mir lebt.«
Butts starrte ihn an. »Ah, ehm, ja, ja.«
»Natürlich glauben Sie das nicht«, sagte Perkins und goss sich Tee nach. »Das tun nur wenige Nichtheiden. Allerdings wissen einige Menschen es besser, wenn wir auch nur sehr wenige sind. Aber wir werden mehr.«
»Und war Ana kürzlich zu Ihrem Glauben übergetreten?«, fragte Butts.
Alle Achtung, Butts , dachte Lee, damit haben Sie ihn überrumpelt.
Perkins ließ sich mit der Antwort Zeit. Offensichtlich überlegte er, was er am besten sagte, ohne zu viel preiszugeben. Er stand auf und holte den Teller mit dem Shortbread.
»Wie wäre es mit einem Keks?«, fragte er Butts.
»Danke.« Butts griff zu. Ohne die Augen von Perkins zu wenden, wartete er darauf, dass der seine Frage beantwortete.
Lee entspannte sich innerlich. Butts hatte sich wieder im Griff und lief zu Bestform auf. Es war ein Fehler, wenn man sich bei der Befragung eines Verdächtigen von seinen Gefühlen beherrschen ließ.
Perkins nahm sich ebenfalls einen Keks und setzte sich wieder auf das kleine Sofa.
»Ana Watkins«, begann er dann, »war eine ausgesprochen verwirrte junge Frau. Zumindest als sie ihre Therapie bei mir begann. Allerdings machte sie dann Fortschritte – große Fortschritte sogar.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Das macht ihren Tod in meinen Augen noch tragischer. Sie hatte nicht nur ihr ganzes Leben noch vor sich, sondern sie bekam es darüber hinaus auch gerade in den Griff.«
»Und, teilte sie Ihre religiösen Überzeugungen?«, insistierte Butts.
Perkins biss von seinem Keks ab und kaute nachdenklich. »Ana war ein interessanter Fall. Sie hatte viele Erinnerungen ausgeblendet. In ihrer Vergangenheit sind furchtbare Dinge geschehen. Ich habe sie unter Hypnose gesetzt. Dabei kamen nicht nur die verdrängten Ereignisse ans Licht – sondern auch Erinnerungen an frühere Leben.«
»Sie haben ihr also geholfen, sich an diese früheren Leben zu erinnern?«, fragte Butts.
»Richtig.«
»Verstehe. Und wie sah diese Hilfe genau aus?«
»Nichts Dramatisches, Detective, falls Sie dergleichen erwarten«, erklärte Perkins. »Ich habe lediglich mitgeschrieben, woran sie sich unter Hypnose erinnerte, damit sie es später nachlesen konnte. Wie die meisten Menschen wusste sie nach der Hypnose nichts mehr davon.«
»Tatsächlich?«, fragte Butts. »Ist es nicht ziemlich verführerisch, wenn man mit einer jungen attraktiven Frau zusammen ist, die absolut nichts mitbekommt? Da kann man doch mit ihr machen, was man will.«
Perkins sah ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Mitleid an. »Ich fürchte, Sie sind berufsblind, Detective. Sie unterstellen jedem nur die niedrigsten Motive.«
Ungerührt biss Butts wieder von seinem Keks ab und krümelte dabei auf seine Hose und den Teppich. Lee bemerkte, dass Perkins’ Hände zuckten, als er das sah. Litt der Mann an einer Zwangsstörung? Dass ihn die Krümel so nervös machten, war zumindest ein Anzeichen dafür. Offenbar wäre er
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