Wehe Dem, Der Gnade Sucht
zu erkennen, nicht aber die dazugehörigen Gesichter.
Elena Krieger betrat die Bar in ihrem roten Bustier, mit einer Federboa um den Hals und in Netzstrümpfen. Sie wusste, dass Joe gemeinsam mit seinem Freund hier gewesen war, bevor er ermordet wurde, also musste sie im Jack Hammer ermitteln. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie bei einem Undercovereinsatz einen Mann spielte, der angezogen war wie eine Frau. Aufgeregt und auch etwas ängstlich balancierte sie auf ihren Stilettoabsätzen an die Bar. Wie viele Leute, die zur Polizei gingen, war auch Elena Krieger süchtig nach Adrenalin, verliebt in die Gefahr.
Chuck Mortons Anweisung, nicht allein hier zu arbeiten, hatte sie in den Wind geschlagen. Ein ständiger Bewacher hätte nicht gerade zu ihrer Glaubwürdigkeit beigetragen. Als verdeckter Ermittler war man nur erfolgreich, wenn die Beute nicht roch, dass der Köder vergiftet war. Falls der Mörder heute hier war, würde sie ihn erkennen, bevor er begriff, wer sie war. Entschlossen warf sie sich die Federboa über ihre Schulter.
KAPITEL 39
Lee saß im Café des Barnes-and-Noble-Buchladens in der Eighty Second Street und hoffte auf einen besseren Tisch. Unten, ein Stockwerk tiefer, spazierten Leute verträumt an den Regalen entlang.
Lee war hier mit Kathy verabredet, aber schon etwas früher gekommen, weil er noch ein wenig allein sein und über seinen Fall nachdenken wollte. Der Tapetenwechsel würde ihm guttun. Anders als bei sich zu Hause oder in Chucks Büro gelang es ihm ja vielleicht in einer anderen Umgebung, eine neue Perspektive einzunehmen und etwas zu entdecken, das ihm bisher entgangen war. Außerdem mochte Lee Buchläden. Er atmete den Geruch von Papier und Espresso ein. Es war das Aroma des Denkens, Lernens, und der Kunst der Kaffeezubereitung.
Wir kommen hierher, weil wir Gesellschaft brauchen, dachte er. All diese Menschen waren nicht wegen des Kaffees oder der Bücher hier. Sie suchten die physische Nähe zu anderen Menschen.
Und auch Lee suchte jemanden, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Er sehnte sich danach, dass dieser Mann gefasst wurde, wie man sich sonst nur nach der Umarmung einer Geliebten sehnte – wie sich der Killer wahrscheinlich nach seinem nächsten Opfer sehnte, um es dann grausam zu ermorden. Vollkommen gefühllos, so wollte es jedenfalls auf den ersten Blick scheinen. Nur waren diese Morde in Wahrheit alles andere als gefühllos. Natürlich gab es gefühllose Killer. Die töteten aus Habgier. Dieser Täter aber war anders. Er kochte fast über vor unterdrücktem Zorn. Jedes seiner Opfer hatte er aus sehr persönlichen Gründen gewählt, mochte das auch einem Laien nicht sofort auffallen.
Lee spürte, dass sich etwas hinter der Brutalität der Morde verbarg – ein bestimmtes Leitmotiv, das das Handeln des Killers bestimmte, ihn regierte. War es Verlust? Sehnsucht? Enttäuschung?
Lee schaute hoch und sah, dass Kathy auf seinen Tisch zusteuerte. Ihr Gesicht war gerötet und die Haare zerzaust. Bei ihrem Anblick bekam er ein Kribbeln im Bauch.
»Hallo, komme ich zu spät?«, fragte sie mit einem Blick auf seine halbleere Kaffeetasse.
»Nein, ich war zu früh da«, antwortete er und schob ihr den Stuhl zurecht.
»Die Zugfahrt war ein Albtraum«, stöhnte sie und stellte die Aktentasche ab. »Was trinkst du da?«
»Ganz simplen Kaffee.«
Kathy runzelte die Stirn und drehte sich nach der Tafel mit der Karte neben dem Tresen um.
»Hm, ich brauche etwas Stärkeres. Bin gleich wieder da.«
Kurz darauf kehrte sie mit einem Espresso und einem Stück Karottenkuchen zurück.
»Den teilen wir«, sagte sie und reichte Lee die zweite der beiden Gabeln, die sie mitgebracht hatte.
»Danke.«
Kathy nippte am Espresso. »Arbeitest du an deinem Fall?«, fragte sie, weil seine Notizen auf dem Tisch lagen.
»Ja.«
»Irgendwelche Fortschritte?«
»Schwer zu sagen, keine einfache Ermittlung.«
»Hast du dir schon mal vorgestellt, wie das wohl ist?«, fragte sie leise.
»Was denn?«
»Wenn man weder Mitgefühl kennt, noch irgendwelche Reue empfindet.«
»Ich habe es versucht, aber es ist unmöglich. Ungefähr, als würde man sich vorstellen, Alkoholiker zu sein, obwohl man keiner ist.«
Sie beugte sich so weit vor, dass ihre Brüste den Tisch berührten. »Dass diese Menschen beides nicht fühlen können, darf man ihnen genau genommen nicht einmal vorwerfen.«
»Wahrscheinlich nicht, nein. Aber was macht das für einen Unterschied? Man muss sie stoppen und
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