Wehe wenn der Wind weht
lag das Haus der Ambers. Wenn Christie sich auch drücken würde, dann würde sie aufgeben und heimgehen. Sie fand, daß es nicht viel Spaß machte, so für sich allein mutig zu sein.
Langsam näherte sie sich dem großen alten Haus.
Nachts schien es noch viel größer zu sein, so wie es sich gegen das Mondlicht abzeichnete. Lichter schimmerten in den Fenstern im Erdgeschoß und im Obergeschoß war ein weiteres Fenster erhellt. Jay-Jay nahm an, daß dies Christies Zimmer sein müsse.
Sie ergriff einen Stein und warf ihn, so hoch sie konnte, gegen die Seitenwand des Hauses.
Sie wartete einen Augenblick und warf dann noch einen.
Christies Gesicht tauchte am Fenster auf.
»Christie!« rief Jay-Jay leise. »Ich bin's! Jay-Jay!«
»Wo sind die anderen?« zischte Christie zurück.
»Sie treffen sich mit uns am Bergwerk«, log Jay-Jay. Sie war sicher, daß Christie bei dem Abenteuer nicht mitmachen würde, wenn sie ihr erzählte, daß sonst niemand gekommen war.
Christie dachte darüber nach. Hätte Tante Diana sie gehen lassen?
Nein, das hätte sie nicht.
Aber Tante Diana war nicht zu Hause.
»Ich bin in einer Minute unten«, wisperte Christie. Sie schloß das Fenster und zog ihre Jeans wieder an. Nachdem sie angezogen war, schlich sie über die Hintertreppe nach unten und lauschte von der Küche aus. Alles, was sie hören konnte, war das Summen des Fernsehers.
Sie öffnete die Hintertür und glitt hinaus in die Nacht. Jay-Jay wartete auf sie.
»Komm schon«, sagte Jay-Jay. »Laß uns gehen, bevor wir erwischt werden.«
Die beiden Mädchen rannten hinter die Scheune und begannen dann, parallel zu der Straße zu laufen, die zum Bergwerk hochführte. Der stärker werdende Wind heulte aus den Hügeln wie ein unheimliches körperloses Monster. Christie ergriff plötzlich Jay-Jays Hand.
»Ich mag das nicht«, flüsterte sie, aber Jay-Jay kannte die magischen Worte.
»Sei kein Feigling«, sagte sie. »Es ist nur der Wind.«
Unglücklich ging Christie weiter.
Zwanzig Minuten später standen sie vor dem Bergwerkseingang, der im Schatten des Hügels fast unsichtbar war.
»Wo sind denn die anderen?« flüsterte Christie.
Jay-Jay wollte ihr noch immer nicht erzählen, daß sie alleine waren. »Vielleicht sind sie hineingegangen«, meinte sie. Sie wollte auf den Eingang des Stollens zugehen, aber Christie blieb zurück.
»Das will ich nicht«, flüsterte sie. »Jay-Jay, ich will nach Hause.«
»Feigling«, verspottete Jay-Jay sie. »Feigling, Feigling, Feigling!«
Widerwillig machte Christie einen Schritt vorwärts, doch Jay-Jay war in der Dunkelheit verschwunden. »Jay-Jay? Wo bist du? Jay-Jay? Jeff?« Sie wartete, doch das einzige Geräusch, das sie hörte, war das Heulen des Windes.
Und dann bewegte sich plötzlich etwas in dem düsteren Licht.
»Wer ist da?« fragte sie.
Es erfolgte keine Antwort, doch die Gestalt bewegte sich wieder. Sie schien auf sie zuzukommen.
Christie Lyons drehte sich um und rannte den Hügel hinunter.
Diana wartete, bis Bill vom Haus weggefahren war und ging dann durch die Vordertür hinein. Es war erst kurz vor zehn. Zumindest konnte ihre Mutter ihr nicht vorwerfen, zu spät gekommen zu sein. Sie spürte, daß sie Kopfschmerzen bekam und ging deshalb in die Küche und schluckte Aspirin mit Wasser. Dann schaute sie ins Wohnzimmer, wo Edna vor dem Fernseher schlief. Diana wollte sie schon wecken, entschloß sich aber dann, sie allein zu lassen. Sie würde hoch in die Kinderstube gehen, um noch etwas Zeit mit Christie zu verbringen.
Sie stieg die Treppen zum Obergeschoß empor und lauschte, wie der Wind um die Dachsparren fuhr. Wahrscheinlich würden sie heute einige Dachschindeln verlieren.
Die Tür der Kinderstube war geschlossen, doch darunter war Licht zu sehen. Diana pochte leise und öffnete dann die Tür.
»Baby? Ich bin daheim.«
Das Zimmer war leer.
»Christie? Christie, wo bist du?«
Keine Antwort. Diana jagte die Treppen hinunter. »Mutter? Mutter! Wo ist Christie?«
Edna erwachte ruckartig und schaute schläfrig ihre Tochter an. »Oben in ihrem Zimmer natürlich. Wie spät ist es?«
»Sie ist nicht in ihrem Zimmer. Ich war gerade oben.« Panik stieg jetzt in ihr auf, aber sie versuchte, ruhig zu sein. »Mama, wo ist sie? Wo ist mein Baby?«
Edna stand auf und kam auf Diana zu.
»Beruhige dich, Diana«, sagte sie. Draußen konnte sie noch immer den Wind heulen hören, und in den Augen ihrer Tochter sah sie den vertrauten Blick von Furcht und Verwirrung.
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