Wehe wenn der Wind weht
Küche. Sie fand Diana, die am Tisch stand und in einer Teigschüssel rührte.
»Tante Diana?«
Überrascht wirbelte Diana herum und starrte Christie an. »Ich dachte, du seist in deinem Zimmer?«
»Ich habe ein paar Kinder gesehen«, erklärte Christie. »Jeff und einige andere. Ich - ich dachte, sie seien vielleicht gekommen, um mich zu besuchen.«
Wieder spürte Diana, wie ihr Herz zu rasen begann, doch als sie Christie anschaute, achtete sie darauf, daß ihr ihre Nervosität nicht anzumerken war. »Warum sollten sie das tun?« fragte sie.
»Es sind meine Freunde«, sagte Christie. »Sind sie nicht gekommen, um mich zu besuchen?«
Diana schüttelte den Kopf. »Sie haben Blumen auf unserem Feld gepflückt und haben gefragt, ob sie das dürfen.«
»Aber ich hab' sie gehen sehen, und sie hatten keine Blumen dabei«, protestierte Christie. »Haben sie die nicht da gelassen?«
»Ja«, erwiderte Diana. »Aber ich habe sie weggeworfen. Miß Edna ist gegen Blumen allergisch.«
Christie stand reglos da, versuchte das alles zu verstehen. Doch wie so vieles, was seit gestern geschehen war, ergab es keinen Sinn.
Langsam stieg sie wieder ins Obergeschoß hoch und ging in die Kinderstube.
Sie verbrachte den Rest des Tages damit, mit Unterbrechungen zu schlafen und sie wünschte sich, ihr Vater käme und würde sie holen.
Aber sie begann zu begreifen, daß nie wieder jemand kommen und sie holen würde.
Sie war ganz allein auf der Welt.
5
am tag der beerdigung von Elliot Lyons war fast die ganze Stadt hinausgekommen und hatte sich auf dem kleinen Stück Land versammelt, das säuberlich von einem schwarzen schmiedeeisernen Zaun umsäumt war, auf dem die Toten von Amberton geduldig auf ihre Wiederauferstehung warteten.
Es war ein strahlender, klarer Morgen, der Wärme am Nachmittag versprach, und das Tal, das sich vor dem Städtchen ausbreitete, war noch immer ein glänzendes Grün, in dem noch keine Spur des staubigen Brauns zu sehen war, das mit fortschreitendem Sommer die Oberhand gewinnen würde. Über Amberton hob sich der Himmel zu einer gewaltigen Kuppel, welche die Stadt winzig klein erscheinen ließ. Es war einer jener Tage, an dem die Bewohner von Amberton sich ihres Lebens freuten und der sie doch zugleich an ihre Sterblichkeit erinnerte.
Als jetzt Diana Amber im Schatten der Weiden stand, die sich auf dem Friedhof wie stumme Trauernde duckten, war sie froh, ihrem Impuls nicht gefolgt zu sein, ihren Mantel zu Hause zu lassen. Aber sie fröstelte nicht allein wegen der Morgenluft. Sie hatte Beerdigungen nie gemocht, und es schien ihr, daß sie auf so vielen gewesen sei. Seit ihrer Kindheit hatte ihre Mutter darauf bestanden, daß es die Pflicht der Ambers sei, jeder Beerdigung beizuwohnen, gleich, ob man dem Verstorbenen nahegestanden hatte oder nicht. Obwohl Edna vorgab, daß dies einzig aus dem Grunde geschähe, den Toten die Ehre zu erweisen, hatte Diana insgeheim immer den Verdacht gehabt, daß Edna damit beabsichtigte, Flagge zu zeigen - die Flagge der Ambers. So konnte gar nicht erst der Gedanken aufkommen, daß die Ambers aus Schamgefühl angesichts der vielen Toten fernblieben, die für ihren eigenen Reichtum gezahlt hatten.
Obwohl das Bergwerk seit einem halben Jahrhundert stillgelegt war, hatte Edna die Tradition beibehalten, zu jeder Beerdigung zu gehen, und in Amberton kursierte der Scherz, daß ihr Fernbleiben bei ihrer eigenen Beerdigung der einzige Beweis für Edna Ambers endgültigen Tod sein würde. Auch heute gab es keine Ausnahme. Sie stand neben ihrer Tochter, die eine Hand auf Dianas Arm gelegt, während die andere auf der Krücke ihres allgegenwärtigen Stocks ruhte. Auf der anderen Seite stand Christie Lyons neben Diana, die Augen auf den Sarg gerichtet, der auf Bohlen über dem offenen Grab stand.
Christies Gesicht wirkte gelassen und täuschte so über ihre innere Erregung hinweg. Sie wünschte sich im Augenblick mehr als alles andere, bei ihrem Vater im Sarg zu liegen und dahin zu gehen, wohin er gegangen war, wo immer das auch sein mochte. Aber das würde bedeuten, daß sie tot wäre, und obwohl sie sehr traurig war, wußte sie nicht, ob sie sich wirklich wünschte, tot zu sein. Sie nahm an, daß sie sich eigentlich wünschte, ihr Vater wäre auch nicht tot. Sie wünschte sich, sie könnte ihre Augen schließen und ganz, ganz innig beten, und wenn sie dann die Augen wieder öffnete, würde ihr Vater dastehen und ihr sagen, daß er doch nicht tot sei und daß nun alles
Weitere Kostenlose Bücher