Wehrlos: Thriller
zusammen, nahm ihr tropfendes Regencape und schüttelte es aus, um es anschließend außen auf ihrem kleinen Rucksack festzubinden. Darin verstaut waren zwei Müsliriegel für Sacha, die Endversion von »Eiche und Schilfrohr« auf USB -Stick, im Übrigen die gleiche Fassung wie die, die sie Joanna gegeben hatte, und Christas rosafarbenes indisches Täschchen, das sie wie einen Talisman immer bei sich trug. Zu guter Letzt hatte sie noch den weißen Umschlag eingepackt, der ihr die Augen über Samuel geöffnet und ihr gezeigt hatte, dass er im Grunde zu den Leuten gehörte, die Rachel instinktiv verachtete. Was hatte dieser Artikel zutage gefördert, dass er sie derart verunsicherte? Das spielte im Moment keine Rolle. Sie durfte dem keine Aufmerksamkeit schenken und sollte besser weiter ihrem Team vertrauen. Doch die Enttäuschung war groß. Warum hat er mich angelogen? Erneut sah sie seine Unschuldsmiene vor sich, als sie das Jagdhandbuch hervorgezogen hatte. »Das gehört nicht mir.«
Der Artikel handelte von diesen Touristen, die auf der Suche nach einem Nervenkitzel nach Südafrika reisen, um dort auf Großwildjagd zu gehen, und später, mit Trophäen bepackt, selbstgefällig nach Europa zurückkehren. Dem Artikel zufolge betreute Samuel von Lommel, seines Zeichens Journalist und ausgezeichneter Großwildjäger, seit sieben Jahren Safarigruppen im afrikanischen Busch. »Wir bieten Ihnen hier die Möglichkeit, gefährliches Großwild wie Löwen, Leoparden, Rhinozerosse, Nilpferde, Elefanten und, ja, sogar den Kapbüffel zu jagen«, erklärte er. »Wir sind sehr stolz darauf, dass John Smith zu uns zählt, der zu den wenigen Großwildjägern gehört, denen es bisher gelungen ist, fünf verschiedene Großwildarten – Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe, Leopard –, also die › Big Five ‹ , in fünf Tagen mit fünf Kugeln zu erlegen!«
Als Rachel sich an diese Textpassage erinnerte, stieg die Wut in ihr hoch. Löwen, Elefanten, Zebras, Giraffen, Geparde, Leoparden, schwarze Rhinozerosse und Nilpferde, die diese Fanatiker im Drillich auslöschten, als wäre es ein Spiel, waren von der IUCN , der Internationalen Union für die Bewahrung der Natur, als gefährdete Arten eingestuft worden. Darüber hinaus freute man sich in dem Artikel darüber, dass dieser »Sport« Südafrika jährlich immerhin hundertfünfzehn Millionen Euro bescherte. Rachel fluchte innerlich über die einseitige Berichterstattung der Zeitung. Andere Fakten wurden einfach unterschlagen, zum Beispiel, dass in Kenia – dem einzigen afrikanischen Land, in dem solche Jagden illegal waren – der Tourismus florierte und dem Land fünfmal mehr Geld pro Jahr durch die Organisation von Fotosafaris einbrachte. Der tendenziöse Artikel schloss mit der Bemerkung, dass die Zahl der getöteten und exportierten Tiere von der CITES kontrolliert werde und bestimmte Quoten nicht überschritten werden dürften. Dass dieses System sehr mangelhaft und nur schwer zu kontrollieren war, wurde einfach verschwiegen.
Rachel betrat das Krankenhaus. Wer Geld hatte, durfte auf alles Jagd machen, sogar auf vom Aussterben bedrohte Tiere! Wie konnte Samuel an so etwas teilnehmen? Das positive Bild, das sie bisher von ihm gehabt hatte, war durch diesen Artikel schwer erschüttert worden. Doch das Foto war noch widerlicher: Es zeigte von Lommel in Begleitung vier weiterer Männer in Rangerkluft, die mit geschulterten Gewehren hinter fünf Paar Elefantenstoßzähnen posierten. Wie theatralisch! Und dazu noch diese grässliche Bildunterschrift: »Wieder eine erfolgreiche Jagd! Die Ausbeute: fünf Elefanten, fünf schöne Kapbüffel und drei Löwen.« Hinter ihrer Enttäuschung verbarg sich echter Kummer, den sie sich allerdings nicht eingestehen wollte, auch wenn er ihr zentnerschwer im Magen lag. Sie sah kurz auf die Uhr und beschleunigte ihre Schritte. Im Moment ist Sacha das Wichtigste! Sie war zwar nicht zu spät dran, musste aber noch das ganze Krankenhaus durchqueren, denn das Schwimmbad befand sich direkt neben dem Trainingssaal.
Rachel eilte im Laufschritt durch die große Eingangshalle und den verglasten Korridor, bog nach rechts ab und stieß die Schwingtür auf, auf der in weißen Lettern »Aquatherapie« stand. Sofort umfing sie die feuchtwarme, chlorgetränkte Luft. Im weiß gekachelten Eingangsbereich hörte man nur das Quietschen des Gummischiebers, mit dem ein Angestellter in gelbem Kittel über die Fliesen wischte. Die Umkleidekabinen auf der rechten Seite waren
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