Wehrlos: Thriller
dunkel, fünf Rollstühle standen ordentlich aufgereiht davor. Zum Becken gelangte man durch eine große Glastür, die tagsüber ständig offen blieb, damit die Rollstuhlpatienten und Krankentragen ungehindert hinein- und herausgeschoben werden konnten. Doch jetzt war die Tür geschlossen, und das Becken lag im Halbdunkel. Rachel spitzte die Ohren, weil sie hoffte, irgendwo Sachas oder Kirstens Stimme zu hören. Nichts. Der Angestellte mit dem Wischer unterbrach seine Tätigkeit.
»Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
»Ich bin auf der Suche nach meinem Sohn, der mit seiner Physiotherapeutin hier eine Rehastunde hatte. Ich bin etwas spät dran. Ist das Schwimmbad denn schon geschlossen?«, wollte Rachel wissen.
»Seit zwanzig Minuten.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo ich die beiden finden könnte?«
»Sehen Sie doch mal im Trainingssaal nach.«
Rachel dankte dem Mann und verließ erleichtert die beklemmende Schwüle. Zielstrebig ging sie hinüber zum Übungsraum. Drei Patienten arbeiteten unter Aufsicht ihres jeweiligen Physiotherapeuten an ihren Maschinen, doch von Sacha und Kirsten keine Spur. Verwirrt blieb Rachel auf der Schwelle des Saals stehen. Einer der Therapeuten, ein großer, schlaksiger Blonder, unterbrach für einen Moment die Übung seiner Patientin, die mit einem Gewicht am Bein trainierte.
»Suchen Sie Kirsten Sörensen?«
»Ja, so ist es!«, erwiderte Rachel.
Der Mann zog einen Umschlag aus seiner Kitteltasche. »Sie sind um kurz nach siebzehn Uhr gegangen, doch ein Herr hat das für Sie dagelassen.«
Rachel nahm den Brief in Empfang. Ein ungutes Gefühl erfasste sie. Während sie kehrtmachte, öffnete sie hastig den Brief und faltete einen kleinen karierten Zettel auseinander. Der kurze, mit der Maschine geschriebene Text war mit HR unterzeichnet.
■ ■ ■
Völlig benommen sank Rachel auf einen der Plastiksitze in der Eingangshalle und versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Mit tränenverschleiertem Blick las sie noch einmal die Nachricht, hob den Kopf und rang nach Luft. Doch sie wollte keinesfalls in Panik geraten. Rachel versuchte, den Ablauf der Ereignisse zu rekonstruieren. Handlanger von Reed und Renoksen mussten Kirsten und den Kleinen abgepasst und sie verschleppt haben. Gewaltsam? Aber warum hatte Kirsten keinen Widerstand geleistet oder um Hilfe geschrien? Und wohin hatte man sie gebracht? In jedem Fall war die Physiotherapeutin bei Sacha. Rachel klammerte sich an diesen Rettungsring. Mein Kleiner ist nicht allein, Kirsten wird nicht zulassen, dass sie ihm was antun. Rachel biss sich auf die Unterlippe, um nicht in Tränen auszubrechen. Auf der großen Wanduhr war es achtzehn Uhr. Die Zeit verstrich, und Samuel gab womöglich seinem Artikel gerade den letzten Schliff, um ihn in zwei Stunden abzuschicken. Um Gottes willen! Hektisch suchte sie nach ihrem Handy. Sie musste auf jeden Fall die Veröffentlichung verhindern. Der Reporter nahm nicht ab. Nervös schrieb sie ihm eine SMS .
Schick deinen Text nicht ab. Sie haben Sacha.
Sie las die beiden Sätze noch einmal durch. Das klang zu brutal. Besser, sie schrieb etwas anderes.
Ruf mich an. Es ist sehr dringend.
Sie zögerte noch immer, musste an das Foto denken, auf dem er selbstbewusst hinter den Elefantenstoßzähnen posierte. Sicher, sie nahm ihm die Sache übel, doch im Moment brauchte sie dringend Hilfe, jemanden an ihrer Seite, der mit ihr gemeinsam nachdachte und handelte. Jemanden wie ihn. Sie löschte die SMS und schrieb, ohne zu zögern:
Ich bin im Riget. Kannst du herkommen? Ein Notfall.
■ ■ ■
Keine Viertelstunde später stürzte der Reporter besorgt in die Eingangshalle des Riget. Nachdem er Rachel » bin gleich da« geantwortet und seine beiden Mädchen einer verständnisvollen Nachbarin anvertraut hatte, hatte Samuel sich auf sein Motorrad geschwungen und war in halsbrecherischem Tempo ins Krankenhaus gefahren. Samuel entdeckte Rachel gegenüber den Fahrstühlen. Sie kaute nervös an ihren Nägeln und starrte wie gebannt auf die Hinweistafel des Krankenhauses. Inzwischen kannte sie sämtliche Abteilungen und Stationen auswendig, hatte sie wieder und wieder aufgesagt, um ihre Angst zu unterdrücken.
Als sie Samuel kommen sah, sprang sie auf und rief:
»Sie haben Sacha!«
Samuels Miene verfinsterte sich, und Rachel reichte ihm den Brief.
MACH DIE GEPLANTE VERÖFFENTLICHUNG RÜCKGÄNGIG , SONST WIRST DU DEINEN SOHN NIE WIEDERSEHEN . WENN DU DIE POLIZEI EINSCHALTEST , IST ER TOT . BLEIB IM
Weitere Kostenlose Bücher