Wehrlos: Thriller
doch diese sah nur zu Morten. Rachel sagte sich, dass sie seit ihrer Abreise keinen großen Austausch mit ihrer Kabinengenossin gehabt hatte. Joanna war nicht so entspannt und spontan wie normalerweise. Offensichtlich beschäftigte sie etwas, doch Rachel hatte nicht herausfinden können, was. Die Dänin hatte einen provokanten, überschwänglichen Charakter, konnte aber bisweilen auch schweigsam sein. Rachel wusste, dass jeglicher Versuch, sie zum Sprechen zu bewegen, sinnlos war.
Morten erklärte den Ablauf der Operation in allen Einzelheiten: »Die bewaffneten Männer werden warten, bis die Boote die Grindwale zum Strand getrieben haben, um sich auf sie zu stürzen und sie zu massakrieren. Wir versuchen, vorher einzugreifen.«
Er wandte sich nun an alle: »Die Fischer können ebenso schnell bei uns sein wie wir bei ihnen. Meiner Meinung nach misstrauten sie uns von Anfang an, sonst hätten sie uns nicht zweimal die Küstenwache auf den Hals gehetzt. Ihr wisst, dass die Sache gefährlich ist. Sie werden nicht zögern, auf uns zu schießen, um uns zu vertreiben. Also kein falscher Heroismus, ich will euch alle wieder heil und gesund nach Hause zurückbringen.«
Rachel blickte in Mortens dunkle Augen und spürte, wie die Erregung ihres Chefs auf sie überging.
»Wir sind die Einzigen, die die Grindwale heute retten können«, fuhr er trotzig fort, »wir sind ihre letzte Chance.«
Plötzlich griff Rachel in die Tasche ihrer Öljacke, in der ihr Handy vibrierte. Offenbar hatten sie hier in Küstennähe wieder Netzempfang. Seit einer Woche hatten sie nur über das Bordfunkgerät Kontakt zur Außenwelt gehabt. Sie sah nach, wer sie angerufen hatte. Ihre Schwiegermutter Christa hatte ihr eine Nachricht hinterlassen. Diskret hob Rachel das Handy ans Ohr und hörte ihre Mailbox ab.
Ich bin im Krankenhaus, ruf mich an.
Rachels Herz begann schneller zu schlagen. Im Krankenhaus? Sie entschuldigte sich, lief auf die Brücke und wählte die Handynummer ihrer Schwiegermutter. Rachel lebte allein mit Sacha. Seinen Vater Niels, den Sohn von Christa, hatte sie fünf Jahre zuvor auf einem Green-Growth-Schiff kennengelernt, doch nach der Entbindung war er verschwunden. Christa hatte sich um den Säugling gekümmert, als wäre er ihr eigenes Kind, und hatte sowohl die Rolle der Mutter übernommen, die Rachel immer gefehlt hatte, als auch die der liebenden Großmutter. Christa antwortete beim ersten Klingelton.
» Hej , hier ist Rachel, was ist los?«
»Hallo, meine Hübsche, ich bin wegen des Kleinen im Krankenhaus.«
Christas Stimme klang schrill und aufgeregt.
Das Handy fest ans Ohr gedrückt, trat Rachel an die Reling. »Was ist passiert?«
»Ich gebe dir den Professor.«
Rachel hörte ein Rauschen und Knistern in der Leitung. Die Sekunden der Ungewissheit zogen sich in die Länge. Dann ertönte eine ruhige Stimme, die sie gut kannte.
»Rachel, hier ist Emil Hansen. Wie geht es Ihnen?«
»Was ist mit Sacha los, Professor?«
»Etwas Unglaubliches, Rachel.«
»Was denn?«
Rachel hatte fast geschrien. Eine Windböe erfasste sie, und sie hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Vor allem aber hörte sie nichts mehr.
»Doktor, Doktor?«
Ein Knistern war die einzige Antwort. Sie warf einen Blick auf ihr Handy und stellte fest, dass sie kein Netz mehr hatte. Rachel wählte erneut die Nummer ihrer Schwiegermutter.
Keine Verbindung möglich.
Verdammt ! Sie versuchte es noch dreimal – vergeblich. Dann kehrte sie um und lief, die Augen auf das Display ihres Handys gerichtet, zurück. Etwas Unglaubliches, der Arzt hatte gesagt, etwas Unglaubliches … Plötzlich tauchte ein schwaches Netzzeichen auf. Mit steifen, zitternden Fingern wählte Rachel die Nummer. Endlich vernahm sie einen Rufton.
»Rachel?«
»Wir sind unterbrochen worden. Was haben Sie gesagt?«
»Es ist etwas Unglaubliches passiert!«
»Ja, ja, aber was denn?«
»Sacha hat die Füße gehoben und zwei Schritte gemacht.«
Fassungslos hielt sich Rachel an der Reling fest, um nicht zu fallen. Die Wellen verschwammen vor ihren Augen.
»Er hat die Füße gehoben?«
»Ja, genau, gut zehn Zentimeter!«
Rachel hatte plötzlich ihren vierjährigen Sohn vor Augen: Die unteren Gliedmaßen waren durch die Läsion fast vollständig gelähmt. Dank mehrerer Operationen und der Physiotherapie konnte Sacha in einem Laufwagen stehen, doch noch nie hatte er einen Fuß heben können.
»Aber das ist unmöglich! Sie haben gesagt, es sei völlig unmöglich!«
Durch das
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