Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn sie waren dahin.« (Mt 2,18; Jer 31,15)
Wissen, aber nicht handeln. Die Schriftgelehrten und Hohenpriester
Auch die Hohenpriester und Schriftgelehrten gehören zu den Gruppen, die sich vor Verwundungen schützen wollen. Bei ihnen fällt jedoch erst bei genauem Hinsehen auf, wie verwundbar sie sind. Zuerst einmal gehören sie zum religiösen Establishment. Sie genießen Ansehen, sind gut verortet und können sich etwas leisten. Weil sie sich in den Heiligen Schriften auskennen, können sie dem Tyrann zu Diensten sein. Sie sind in der Lage, denim Alten Testament vorhergesagten Geburtsort des Messias zu benennen: Betlehem. Das offenbart religiöse Kompetenz, die ihnen Autorität verschafft. Sie kennen den Text des Propheten Micha, der Betlehem eine große, friedenstiftende Zukunft verheißt (Mi 5,1–3).
In diesem Fall bringt sie diese Kompetenz jedoch in eine schwierige Situation. Sie kennen die Gewaltsamkeit des Machthabers, seine Hinterlisten und Bösartigkeiten. Sie können sich denken, dass er einen anderen Großen nicht so einfach akzeptieren, geschweige denn ihm huldigen wird. So kommt zwar die Frage des Herodes nach dem Geburtsort des Messias harmlos daher. Aber messianische Fragen haben einen politischen Kontext. Das wissen die Gelehrten sehr wohl. Dennoch verstricken sie sich mit ihrer Kompetenz in den Machenschaften des Herodes. Sie geben ihm die Information, die er braucht, um seine Bluttat auszuführen.
Die Hohenpriester und Schriftgelehrten können sich die Hände in Unschuld waschen mit dem Argument, dass sie nur auf eine harmlose Frage antworten. In diesem Feld sind sie kompetent und befragbar, also antworten sie. Und dennoch bleibt ein schaler Nachgeschmack. Haben sie die Konsequenzen ihres Handelns nicht bedacht? Haben sie lieber nicht dorthin geschaut, wo sich zeigen würde, dass sie das nicht verantworten können? Sie geben dem gewieften Machtpolitiker Herodes die Information, die er braucht, um den Geburtsort des Messias in Erfahrung zu bringen. Wenn sie ihm diese Information verweigern würden, dann wäre ihr Leben in Gefahr. Das ist ihre verwundbare Stelle. Gelehrte werden allzuschnell entmachtet oder sogar umgebracht, wenn sie dem Herrscher ihr Wissen verweigern.
Ein weiterer Punkt verwundert in der Geschichte. Eigentlich wäre doch zu erwarten, dass die Jerusalemer Hohenpriester und Schriftgelehrten sofort aufbrechen und schauen, was in Betlehem los ist. Aber das tun sie nicht. Wenn man eine Erkenntnis hat, heißt das noch lange nicht, dass man entsprechend handelt. Es könnte gefährlich werden, und dazu fehlt der Mut. Die Hohenpriester und Schriftgelehrten brechen nicht selbst auf, um nach dem Verheißenen zu suchen. Das religiöse Establishment bleibt lieber zuhause bei seinen Büchern und hinter seinen Altären. Es will die Fleischtöpfe Ägyptens nicht verlassen. Wissen, Glauben und Handeln stimmen nicht immer und schon gar nicht automatisch überein. Wenn die Hohenpriester keinen Fehler machen, dann haben sie ihren festen, sicheren Ort am Allerheiligsten und in ihren Bibliotheken. Warum sollten sie diesen Platz verlassen und sich ins Ungewisse aufmachen, wo etwas geschieht, das sie nicht kalkulieren können? Nach Betlehem zu gehen würde bedeuten, die eigene Position auf Spiel zu setzen. Dazu sind sie nicht bereit.
Die narrative Theologie der Bibel
Von Gott kann man in ganz verschiedenen Sprachformen reden, beispielsweise argumentierend wie die Scholastik oder poetisch wie die Psalmen. Die narrative Theologie der Bibel setzt auf die überzeugende Kraft des Erzählens (vgl. Sandler 2002). Unerhörte Ereignisse führen vor Augen, wie Menschen mit den Zumutungen des Lebens umgehen und welche neuen Perspektiven Gottes Handeln hier eröffnet. Kunstvoll und anschaulich werden Geschichten erzählt, die Gott mitten in der Geschichte der Menschheit verorten.
2. Verletzlichkeit wagen – ein weihnachtlicher Mensch werden
Die Weihnachtsgeschichten sind mit der Praxis des Wegschauens und mit der Herodes-Strategie der gezielten Verwundung Anderer sehr realistisch. So geht es zu in der Welt. Aber bei dieser Erkenntnis bleiben die Evangelien nicht stehen. Sie bieten vielmehr eine Alternative an, wie man ganz anders mit Verwundbarkeit umgehen kann. Sie erzählen, wie Menschen bereitwillig eigene Ressourcen hergeben, um Andere in ihrer Verletzlichkeit zu schützen. Sie riskieren ihre eigene Verwundbarkeit, damit die Lebenschancen Anderer wachsen.
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