Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
f) Die Boten des Himmels gehen behutsam vor. Zuerst tritt ein Engel auf und spricht sein »Fürchtet euch nicht!« Erst dann kommt die überwältigende Himmelsschar. Die Hirtinnen und Hirten auf freiem Feld, die nie im Rampenlicht öffentlichen Interesses stehen, erhalten eine besondere Einladung des Himmels. Sie werden von höherer Stelle zum Ort der Gottesgeburt gebeten. Und sie werden für würdig befunden, eine himmlische Botschaft zu überbringen.
Ganz anders als die Schriftgelehrten und Hohenpriester sind diese Menschen bereit, ihren schutzbedürftigen Lebensort zu verlassen und zur Krippe zu gehen. Sie wollen das Kind sehen und seinen Eltern die Botschaft des Engels weitergeben. »Als die Engel sie verlassen hatten und in den Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander: Kommt, wir gehen nach Betlehem, um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr verkünden ließ. So eilten sie hin …« Sie wollen keine Zeit verlieren. Sie haben es eilig. Mit einer Schafherde im Schlepptau kann man aber nicht eilen, da muss man sich Zeit nehmen. Also müssen sie ihre Herde zurücklassen.
Damit wagen sie viel. Denn während ihrer Abwesenheit können sie einige oder sogar alle Tiere, ihre zentrale Lebensressource, verlieren. Sie opfern bereitwillig ihren Schlaf und riskieren überdies den Verlust ihrer Schafe. Ohne zu zögern gehen sie das Wagnis ein und lassen alles hinter sich. So gelangen sie mitten hinein in diesen unscheinbaren Ort der Gottesgeburt. Und was sehen sie,als sie zur Krippe kommen? Ein neugeborenes Kind, winzig klein und verletzlich. Nicht ein Gott der Herrschaft und des Triumphes ist hier am Werk, der die Kleinen noch kleiner macht; sondern ein Gott, der sich auf das menschliche Leben einlässt, es selbst auf sich nimmt, es als Mensch mit den Menschen teilt.
Das Lukas-Evangelium widmet den Hirtinnen und Hirten eine eigene, raumgreifende und bedeutsame Erzählung. In ihrer Mitte steht die theologische Interpretation der Geburt Jesu, die der Engel erzählt. Das ist höchst erstaunlich. Eine Gruppe, die gesellschaftlich nichts zu sagen hat, wird zum Adressaten der Weihnachtsbotschaft. Dies wiederum befähigt sie, selbst den Mund aufzutun und zu sprechen. »So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag. Als sie es sahen, erzählten sie, was ihnen über dieses Kind gesagt worden war. Und alle, die es hörten, staunten über die Worte der Hirten.« (Lk 2,16–18) Die Sprachlosen werden sprachfähig und finden Gehör.
Die Botschaft, die ihnen der Engel gebracht hat und die sie nun an der Krippe erzählen, korrespondiert mit dem, was sie selbst erfahren. Die Weihnachtsbotschaft besagt, dass Gott in Jesus Christus mitten in die menschliche Armut hineingeht. Gott macht sich klein und verletzlich, um den Kleinen und Schwachen Stärke zu verleihen. In der Erfahrung der Hirtinnen und Hirten verwirklicht sich diese Botschaft. Sie sind Ausgeschlossene, die nun ins Zentrum rücken, und Sprachlose, die Sprachfähigkeit und Gehör finden. An der Krippe bricht das Reich Gottes an.
Was wir teilen, macht uns reich.
Die dahergelaufenen Sterndeuter
Während Lukas die Hirtinnen und Hirten in den Blick rückt, erzählt Matthäus von einer anderen Gruppe, die die Krippe aufsucht: die Sterndeuter (Mt 2,1–12). Das sind geheimnisvolle Figuren. In der Kunst sowie in der Frömmigkeitsgeschichte wirkten sie geradezu beflügelnd. Wo kommen sie her? »Aus dem Osten«, sagt Matthäus schlicht und ergreifend. Das ist zwar eine Ortsangabe, aber eine recht allgemeine. Östlich von Judäa liegt das Morgenland – Persien, Mesopotamien, Babylonien. Dass es genau drei Sterndeuter waren, davon sagt die Bibel nichts. Sie nennt keine Zahl und keine Namen. Sie sagt nicht, dass es Könige waren – all das wurde später in der Legende erläuternd hinzugefügt. Wir wissen nicht einmal, ob nicht doch eine Frau dabei war, eine Sterndeuterin.
Im Griechischen werden sie »Magoi« genannt, Magier. Das sind Menschen, die die Kunst der Sterndeutung beherrschen. Sie sind Intellektuelle, die in ihrer Heimat großes Ansehen genießen. Denn von ihnen wird erwartet, dass sie die Zeichen der Zeit erkennen und deuten. Das ist eine überaus wichtige Aufgabe, denn wer die Zeichen der Zeit kennt, kann Handlungsperspektiven eröffnen. Diese wiederum können über Heil oder Unheil einer Gemeinschaft entscheiden. Die Magier stehen am Schnittpunkt von persönlichem und politischem Handeln. Sie können das Schicksal
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