Weihnachten - Gedichte und Geschichten: Eine Weihnachtsgeschichte, Nußknacker und Mausekönig, Der Schneemann, Die Eisjungfrau, Schneeweißchen und Rosenrot, ... denkwürdige Neujahrnacht (German Edition)
mit seiner Tochter zu Gast war, forderten Rudy auf, doch einmal vorbeizuschauen – wo er doch aus demselben Kanton wie ihr Vetter stammte. Das war ein gutes Angebot für Rudy das Glück war mit ihm, wie es stets mit jenem ist, der auf sich selbst vertraut und daran denkt: »Unser Herrgott gibt uns die Nüsse, aber er knackt sie nicht für uns!«
Und Rudy saß bei der Verwandtschaft des Müllers, als gehörte er zur Familie. Ein Trinkspruch auf den besten Schützen wurde ausgebracht, und Babette stieß mit ihm an, und er bedankte sich.
Als sie gegen Abend alle die schöne Straße mit den schmucken Hotels unter den alten Walnußbäumen entlanggingen, war dort eine solche Menschenmenge und ein solches Gedränge, daß es Rudy erlaubt war, Babette den Arm anzubieten.
Er sei so froh, daß er Leute aus Vaud getroffen habe, Vaud und Wallis seien gute Nachbarkantone, sagte er mit einer solchen Innigkeit, daß Babette meinte, sie müsse ihm die Hand dafür drücken. Sie schienen fast so vertraut wie alte Bekannte, und lustig war sie, die kleine, reizende Person. Es stand ihr so hübsch, fand Rudy, wie sie auf das Lächerliche und Übertriebene in Kleidung und Gang der fremden Damen hinwies. Dabei wollte sie sich gar nicht über sie lustig machen, die Damen mochten ja äußerst rechtschaffen, ja, sogar lieb und freundlich sein, das wußte Babette, denn sie hatte eine Patentante, eine englische Dame, die auch sehr vornehm war. Die kostbare Nadel, die sie an ihrer Brust trug, hatte ihr die Tante vor achtzehn Jahren geschenkt, als sie zur Taufe nach Bex gekommen war, und zwei Briefe hatte sie ihr geschrieben, und in diesem Jahr wollten sie sich hier in Interlaken treffen, sie, die Tante und deren Töchter, das waren alte Mädchen, so an die dreißig, sagte Babette sie war ja erst achtzehn.
Nicht einen Augenblick stand ihr hübsches Mündchen still, und jedes Wort erschien Rudy äußerst bedeutsam. Er erzählte nun seinerseits, was er zu erzählen hatte: Wie viele Male er in Bex gewesen, wie gut er die Mühle kenne und wie oft er Babette gesehen – doch sie habe ihn vermutlich nie bemerkt. Und als er letztens zur Mühle gekommen sei, mit so vielen Gedanken, die er nicht aussprechen könne, da sei sie mit ihrem Vater verreist gewesen, weit weg, aber doch nicht so weit, daß die Mauer, die den Weg verlängerte, unüberwindlich gewesen wäre.
Ja, das sagte er, und er sagte so vieles; er sagte, daß sie ihm so sehr gefalle – und daß er ihretwegen und nicht wegen des Schützenfestes gekommen sei.
Babette wurde ganz still; was er ihr da anvertraute, das war wohl fest zu schwer zu tragen.
Und währenddessen sank die Sonne hinter die hohe Felsenwand. Die Jungfrau erhob sich in Pracht und Glanz, vom waldgrünen Kranz der nahen Berge umgeben. Die vielen Leute blieben bei diesem Anblick stehen; auch Rudy und Babette betrachteten all diese Größe.
»Nirgends ist es schöner als hier!« sagte Babette.
»Nirgends«, sagte Rudy und schaute sie an.
»Morgen muß ich zurück«, sagte er kurz darauf.
»Besuchen Sie uns in Bex!« flüsterte Babette. »Da wird sich mein Vater freuen!«
V. Auf dem Heimweg
O h, wie vieles hatte Rudy zu tragen, als er am nächsten Tag über die hohen Berge in Richtung Heimat ging. Ja, er hatte drei Silberbecher, zwei vorzügliche Flinten und eine Kaffeekanne aus Silber, die konnte man bei der Gründung eines Hausstands gebrauchen. Aber das alles wog nicht am schwersten; auf seinem Weg über die hohen Berge trug er noch etwas – oder wurde von ihm getragen –, das hatte mehr Gewicht und Macht. Das Wetter war rauh, grau, regnerisch und trübe; wie ein Trauerflor senkten sich die Wolken auf die Berge und hüllten die schimmernden Gipfel ein. Aus dem Waldesgrund tönten die letzten Axtschläge, und die Stämme, die den Hang hinunterrollten, sahen von oben wie Kleinholz, aus der Nähe jedoch wie mastdicke Bäume aus. Die Lütschine ließ ihren einförmigen Akkord erklingen, der Wind brauste, die Wolken segelten. Plötzlich ging neben Rudy ein junges Mädchen, das er erst bemerkte, als sie an seiner Seite war, sie wollte ebenfalls über die Berge. Ihre Augen besaßen eine eigene Macht, man war gezwungen, in sie hineinzuschauen; sie waren so seltsam glasklar, tief und grundlos.
»Hast du einen Liebsten?« fragte Rudy; denn er selbst dachte an nichts anderes als an sein Liebstes.
»Den habe ich nicht«, sagte sie lachend; doch es klang, als wäre kein Wort davon wahr. »Laß uns einen anderen Weg gehen«,
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