Weihnachten - Gedichte und Geschichten: Eine Weihnachtsgeschichte, Nußknacker und Mausekönig, Der Schneemann, Die Eisjungfrau, Schneeweißchen und Rosenrot, ... denkwürdige Neujahrnacht (German Edition)
zwischen den großen Walnußbäumen, hatte am reißenden Bergflüßchen der reiche Müller sein Anwesen. Er wohnte in einem großen Haus mit drei Stockwerken und kleinen Türmen, das mit Schindeln gedeckt und mit Blechplatten beschlagen war, die in Sonnen- und Mondschein glänzten. Der größte Turm hatte als Wetterfahne einen blitzenden Pfeil, der sich durch einen Apfel bohrte; das sollte auf Teils Pfeilschuß deuten. Die Mühle sah schmuck und nach Wohlstand aus, man konnte sie sowohl zeichnen als auch beschreiben; das aber war bei der Tochter nicht möglich, hätte zumindest Rudy gesagt. Und doch war sie ihm ins Herz gezeichnet, ihre Augen leuchteten darin, daß es in hellen Flammen stand. Der Brand war so plötzlich ausgebrochen, wie Feuer sonst auch auflodert, und am merkwürdigsten dabei war, daß die Müllerstochter, die hübsche Babette, nicht das geringste davon wußte, sie hatte mit Rudy niemals auch nur zwei Worte gewechselt.
Der Müller war reich, und dieser Reichtum hob Babette in eine solche Höhe, daß sie fast unerreichbar war. Doch nichts ist so hoch, sagte Rudy bei sich selbst, daß man es nicht erreichen könnte; man muß klettern, und man fällt nicht, wenn man nicht daran glaubt. Diese Weisheit hatte er zu Hause gelernt.
Nun traf es sich, daß Rudy etwas in Bex zu besorgen hatte; dorthin war es eine ganze Reise, denn die Eisenbahn war zu jener Zeit noch nicht gebaut. Am Rhonegletscher beginnt das breite Wallistal mit der mächtigen Rhone, die häufig anschwillt, Felder und Wege überschwemmt und alles zerstört. Es erstreckt sich am Fuß des Simplonmassivs entlang, begrenzt von vielen und wechselnden Bergen, macht zwischen den Städten Sion und St-Maurice eine Biegung, krümmt sich wie ein Ellbogen und wird unterhalb von St-Maurice so eng, daß nur das Flußbett und die schmale Fahrstraße Platz darin haben. Als Schildwache für den Kanton Wallis, der hier zu Ende ist, steht auf dem Berghang ein alter Turm und schaut über die gemauerte Brücke zum Zollhaus auf der anderen Seite, wo der Kanton Vaud beginnt, und die nächste Stadt, nicht weit von hier, ist Bex. Wenn man weitergeht, sieht man bei jedem Schritt mehr Fruchtbarkeit und verschwenderische Fülle, man ist gleichsam in einem Garten von Kastanien- und Walnußbäumen; da und dort gucken Zypressen und Granatblüten hervor, hier ist es so südlich warm, als wäre man in Italien.
Rudy hatte Bex erreicht, erledigte seine Besorgung und schaute sich um – doch nicht einen Gesellen von der Mühle, geschweige denn Babette bekam er zu Gesicht. Es war nicht so, wie es sein sollte.
Als es Abend wurde, war die Luft vom Duft des wilden Thymians und der blühenden Linde erfüllt; die waldgrünen Berge waren wie von einem schimmernden, luftblauen Schleier umgeben. Eine Stille war ausgebreitet, nicht die des Schlafs, nicht die des Todes, nein, die ganze Natur schien den Atem anzuhalten, als fühlte sie sich aufgestellt, um vor dem blauen Himmelsgrund fotografiert zu werden. Hier und da standen zwischen den Bäumen auf grünem Feld Stangen; sie hielten den Telegrafendraht, der durch das stille Tal gezogen war. An einer von ihnen lehnte etwas, und zwar so reglos, daß man es für einen abgestorbenen Baumstamm halten mußte. Doch es war kein lebloses Stück Holz, sondern Rudy; er stand hier ebenso still, wie es in diesem Augenblick seine ganze Umgebung war, nicht schlafend und noch weniger tot. Doch ebenso, wie oft große Weltereignisse und bedeutsame Lebensmomente für den Einzelnen den Telegrafendraht durchfliegen, ohne daß ein Zittern oder Ton darauf hindeutet, so wurde Rudy von Gedanken durchflutet, die groß und überwältigend waren, er dachte an sein Lebensglück, an das, was von nun an sein ständiger Gedanke war. Sein Blick war auf einen Punkt im Laub geheftet, ein Licht, das in der Wohnstube des Müllers brannte – dort war Babette. So still stand er da, daß man annehmen konnte, er legte auf eine Gemse an; doch in diesem Moment glich er selbst einer Gemse, die minutenlang wie aus dem Fels gemeißelt dastehen kann, um dann plötzlich, sowie ein Stein rollt, aufzuspringen und davonzujagen und genau das tat Rudy, denn bei ihm rollte ein Gedanke.
»Niemals verlieren!« sagte er. »Besuch in der Mühle! Guten Abend, Herr Müller, guten Tag, Babette. Man fällt nicht, wenn man nicht daran glaubt! Babette muß mich doch einmal zu sehen bekommen, wenn ich ihr Mann werden soll!«
Und Rudy lachte, war guten Mutes und ging zur Mühle; er wußte, was
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