Weihnachten - Gedichte und Geschichten: Eine Weihnachtsgeschichte, Nußknacker und Mausekönig, Der Schneemann, Die Eisjungfrau, Schneeweißchen und Rosenrot, ... denkwürdige Neujahrnacht (German Edition)
er wollte, und das war Babette.
Der Fluß stürzte eilig davon, Weiden und Linden neigten sich über sein weißgelbes Wasser; Rudy ging den Pfad entlang und, wie es in einem alten Kinderlied heißt:
»– zum Müller hinein,
War aber niemand zu Hause,
Nur ein Kätzchen klein!«
Die Stubenkatze stand auf der Treppe, machte einen Buckel und sagte: »Miau!« Doch Rudy achtete nicht auf diese Rede und klopfte an – niemand hörte, niemand öffnete die Tür. »Miau!« sagte die Katze. Wäre Rudy ein kleines Kind gewesen, dann hätte er die Sprache der Tiere und auch die Katze verstanden, die ihm sagte: »Hier ist keiner zu Hause!« So aber mußte er sich in der Mühle erkundigen, und dort gab man ihm Auskunft. Der Hausherr war verreist, in der fernen Stadt Interlaken – inter lacus, zwischen den Seen , wie der gelehrte Schulmeister, Annettes Vater, einmal erklärt hatte. So weit fort war der Müller, und Babette auch. Morgen sollte dort ein großes Schützenfest beginnen, das ganze acht Tage dauern und die Schweizer aus allen deutschen Kantonen versammeln würde.
Armer Rudy, war da zu sagen, er war nicht zum günstigsten Zeitpunkt nach Bex gekommen; er konnte wieder umkehren, was er auch tat. Über St-Maurice und Sion kehrte er in sein Tal, zu seinen Bergen zurück, doch er war unverzagt. Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, da hatte sich seine Stimmung längst aufgehellt, verdüstert war sie nie gewesen.
»Babette ist in Interlaken, viele Tagesreisen weit«, sagte er zu sich selbst. »Auf der gebahnten Landstraße hat man lange zu gehen; aber wenn man über die Berge kraxelt, dann ist es kürzer, und dieser Weg ist für einen Gemsenjäger gerade richtig! Den bin ich schon einmal gegangen, dort drüben ist meine Heimat, wo ich als kleiner Junge beim Großvater war. Und in Interlaken ist Schützenfest! Da will ich der erste sein, und das will ich auch bei Babette sein, wenn die Bekanntschaft erst einmal gemacht ist.«
Mit seinem leichten Ranzen, der den Sonntagsstaat enthielt, mit Gewehr und Jagdtasche stieg Rudy den Berg hinauf, den kurzen Weg, der doch von ziemlicher Länge war. Aber das Schützenfest hatte ja erst an diesem Tag begonnen und sollte noch über eine Woche dauern; der Müller und Babette wollten die ganze Zeit bei ihren Verwandten bleiben, hatte man ihm in der Mühle gesagt. Rudy ging über den Gemmi und wollte bei Grindelwald hinunter ins Tal.
Rüstig und munter stieg er aufwärts, in der frischen, der leichten, der stärkenden Bergluft. Das Tal sank tiefer, der Gesichtskreis wurde weiter; hier ein Schneegipfel, da ein Schneegipfel und bald die schimmernde weiße Alpenreihe. Rudy kannte jeden Schneeberg; er steuerte auf das Schreckhorn zu, das seinen weißgepuderten Steinfinger in die blaue Luft emporreckte.
Endlich hatte er den Höhenrücken überquert, die Wiesen senkten sich, vor ihm lagen die heimatlichen Täler. Die Luft war leicht, der Sinn war leicht; Berg und Tal strotzten von Blumen und Grün, das Herz war voller Jugendgedanken. Man wird niemals alt, man wird niemals sterben; leben, bestimmen, genießen! Frei wie ein Vogel, leicht wie ein Vogel, so war er. Und die Schwalben flogen vorüber und sangen wie in der Kinderzeit: »Wir und ihr! Und ihr und wir!« Alles war Fliegen und Freude.
Dort unten lag die samtgrüne, mit braunen Holzhäusern bestreute Wiese, die Lütschine summte und rauschte. Er sah den Gletscher, seine glasgrünen Kanten im schmutzigen Schnee, die tiefen Spalten, er sah den oberen und den unteren Gletscher. Die Glocken der Kirche klangen zu ihm herüber, als wollten sie »Willkommen zu Hause« läuten. Sein Herz klopfte stärker und wurde so weit, so groß und erinnerungsvoll, daß Babette für einen Augenblick verschwand.
Auf diesem Weg, den er jetzt wieder ging, hatte er als kleines Bürschchen mit den anderen Kindern am Grabenrand gestanden und geschnitzte Holzhäuser verkauft. Dort oben, hinter den Tannen, stand noch Großvaters Haus, von Fremden bewohnt. Kinder liefen auf ihn zu und wollten handeln, eins davon reichte ihm eine Alpenrose. Rudy nahm sie als ein gutes Zeichen und dachte an Babette. Bald hatte er die Brücke überquert, wo sich die beiden Lütschinen vereinen. Die Laubbäume mehrten sich, die Walnußbäume spendeten Schatten. Jetzt sah er wehende Fahnen, das weiße Kreuz auf dem roten Tuch, wie es die Schweizer und Dänen haben; und vor ihm lag Interlaken.
Ein Prachtstadt wie diese gab es wirklich kein zweites Mal, fand Rudy. Das war eine
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