Weihnachten - Gedichte und Geschichten: Eine Weihnachtsgeschichte, Nußknacker und Mausekönig, Der Schneemann, Die Eisjungfrau, Schneeweißchen und Rosenrot, ... denkwürdige Neujahrnacht (German Edition)
genauso leicht«, sagte Vesinand. »Du hast wohl gute Laune!«
»Ja, ich denke nämlich ans Heiraten. Aber jetzt mal im Ernst, du mußt wissen, wie die Sache für mich steht!«
Und bald waren Vesinand und Ragli in Rudys Vorhaben eingeweiht.
»Du bist ein verwegener Kerl«, sagten sie. »Das ist unmöglich! Du brichst dir den Hals!«
»Man fällt nicht, wenn man nicht daran glaubt!« entgegnete Rudy.
Um Mitternacht zogen die Jäger los, mit Stangen, Leitern und Seilen; es ging durch Gebüsch und Gesträuch und über Geröll, immer bergauf, bergauf, in dunkler Nacht. Das Wasser rauschte unten, das Wasser rieselte von oben, feuchte Wolken trieben in der Luft. Als sie den steilen Felsenrand erreichten, wurde es noch dunkler, die Bergwände stießen fast zusammen, und nur hoch oben, in einem schmalen Spalt, war es ein wenig heller. Gleich neben ihnen war der tiefe Abgrund, in dem ein Wasser rauschte. Alle drei saßen sie still da und warteten, daß der Morgen graute und der Adler das Nest verließe. Den mußte man zuerst erlegen, sonst wäre das Junge niemals zu fangen. Rudy kauerte so still, als wäre er mit dem Stein, auf dem er saß, verwachsen; er hielt das Gewehr schußbereit vor sich und die Augen unverwandt auf die oberste Felsenkluft gerichtet, deren überhängender Rand das Adlernest verbarg. Die drei Jäger warteten und warteten.
Da hörten sie hoch oben ein Knistern und Rauschen, etwas Großes, Schwebendes verfinsterte die Luft. Zwei Flintenläufe zielten auf den schwarzen Körper des Adlers, der aus dem Nest geflogen war, es fiel ein Schuß. Noch einen Augenblick bewegten sich die ausgebreiteten Schwingen, bevor der Vogel langsam tiefer sank, als wollte er mit seiner Größe und seiner Spannweite die ganze Kluft ausfüllen und dabei die Jäger mit sich reißen. Es knackte in Bäumen und Büschen, deren Zweige er auf seinem Weg in die Tiefe zerbrach.
Und nun begann ein geschäftiges Treiben. Um an das Nest heranzukommen, banden die Jäger drei der längsten Leitern zusammen und stellten sie auf den äußersten festen Platz vor dem Abgrund, aber das reichte nicht. Die Felsenwand war noch viel höher und dazu glatt wie eine Mauer bis zu jenem höchsten Vorsprung, unter dem sich das Nest verbarg. Nach einigem Beraten wurden sie sich einig, daß hier nichts besseres zu tun sei, als von oben zwei zusammengebundene Leitern in die Kluft zu lassen und sie, wenn möglich, mit den dreien zu verbinden, die unten schon standen. Es kostete große Mühe, diese zwei Leitern hinaufzuschleppen, mit Tauen zu befestigen und sie so weit über den Felsenvorsprung hinauszuschieben, bis sie freischwebend über dem Abgrund hingen. Der Morgen war eiskalt, die Wolkenschleier stiegen aus der schwarzen Schlucht. Rudy saß auf der untersten Sprosse der Leiter, wie eine Fliege auf einem Strohhalm, der, von einem nistenden Vogel verloren, auf dem Rand eines hohen Fabrikschornsteins wippt – doch die Fliege könnte davonschwirren, falls sich der Halm löste, während Rudy sich nur den Hals brechen konnte. Um ihn herum brauste der Wind, und im Abgrund rauschte das Wasser, das aus dem schmelzenden Gletscher stürzte, aus dem Palast der Eisjungfrau.
Nun begann Rudy mit der Leiter zu pendeln, wie eine Spinne, die von ihrem langen, schwebenden Faden aus auf ihre Beute lauert, und beim vierten Versuch gelang es ihm, das Ende der unteren drei Leitern zu packen und mit sicherer, kräftiger Hand an die zwei oberen zu binden, die jedoch unentwegt baumelten wie in verschlissenen Angeln.
Die fünf langen Leitern, die nun senkrecht an der Felsenwand lehnten und bis zum Nest hinaufreichten, glichen einem schwankenden Rohr. Doch das Gefährlichste kam noch: es galt zu klettern wie eine Katze, aber das konnte Rudy auch, das hatte er vom Kater gelernt; er spürte den Schwindel nicht, der hinter ihm Luft trat und seine Polypenarme nach ihm ausstreckte. Jetzt stand er auf der obersten Leitersprosse und noch immer zu tief, um in das Nest hineinzuschauen, er konnte es nur mit der Hand erreichen. Nachdem er die Festigkeit der untersten ineinandergeflochtenen Zweige des Nestes ausprobiert hatte, sicherte er sich einen dicken, unerschütterlichen Zweig, schwang sich von der Leiter zu ihm empor und konnte Brust und Kopf über den Nestrand schieben. Doch da schlug ihm ein erstickender Aasgestank entgegen, Lämmer, Gemsen und Vögel lagen hier zerfetzt und verwest. Der Schwindel, der ihn nicht anzutasten vermochte, blies ihm giftige Dünste ins Gesicht, um
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