Weihnachten - Gedichte und Geschichten: Eine Weihnachtsgeschichte, Nußknacker und Mausekönig, Der Schneemann, Die Eisjungfrau, Schneeweißchen und Rosenrot, ... denkwürdige Neujahrnacht (German Edition)
Spanschachtel mit beiden Händen fest, als ob er sie gar nicht hergeben wollte. Doch gerade weil der Bursche so ernst und so klein war, erregte er Aufmerksamkeit, ja, er wurde angerufen und machte häufig das beste Geschäft, ohne selbst den Grund dafür zu wissen. Sein Großvater, der die feinen, hübschen Häuschen schnitzte, wohnte höher am Hang. In seiner Stube stand ein alter Schrank, der ganz voll von solchen Schnitzereien war – da gab es Nußknacker, Messer, Gabeln und Schachteln mit prächtigem Laubwerk und springenden Gemsen; da gab es alles, was Kinderaugen erfreuen konnte. Doch der Kleine, Rudy mit Namen, schaute begieriger und sehnsüchtiger nach dem alten Gewehr unter dem Balken; das sollte er einmal bekommen, hatte Großvater gesagt, aber erst mußte er so groß und kräftig werden, daß er es gebrauchen konnte.
Obwohl er noch klein war, sollte der Junge nun die Ziegen hüten, und Rudy war ein guter Hirte, wenn man darunter verstand, daß er mit seinen Tieren klettern konnte. Er kletterte sogar noch ein Stückchen höher und holte sich gern Vogelnester aus den Wipfeln; er war verwegen und keck, doch lächeln sah man ihn nur dann, wenn er am brausenden Wasserfall stand oder wenn er eine Lawine rollen hörte. Niemals spielte er mit den anderen Kindern und kam mit ihnen nur zusammen, wenn sein Großvater ihn zum Handeln schickte. Daraus machte sich Rudy nicht besonders viel, er kletterte lieber allein in den Bergen oder saß in der Stube und hörte zu, wenn Großvater von alten Zeiten und vom Menschenschlag in dem nahgelegenen Dorf Meiringen erzählte, aus dem er stammte. Dieser Menschenschlag hatte nicht seit Urzeiten dort gelebt, sagte Großvater, sondern war eingewandert, war aus dem hohen Norden gekommen, und dort lebte sein Geschlecht und wurde »Schweden« genannt. Wer das wußte, und das tat Rudy, der war klug und gescheit. Doch noch klüger wurde er durch anderen guten Umgang, und zwar mit den Hausbewohnern aus dem Geschlecht der Tiere. Da war ein großer Hund, Ajola, ein Erbteil von Rudys Vater, und da war ein Kater; der war für Rudy von besonders großer Bedeutung, er hatte ihn klettern gelehrt.
»Komm mit aufs Dach!« hatte der Kater gesagt, und zwar ganz deutlich und verständlich; denn wenn man ein Kind ist und noch nicht sprechen kann, dann versteht man Hühner und Enten, Katzen und Hunde vorzüglich und ebensogut wie Vater und Mutter, nur richtig klein muß man sein; dann kann selbst Großvaters Stock wiehern und sich in ein Pferd verwandeln, mit Kopf, Schwanz und Beinen. Bei einigen Kindern hält sich diese Fähigkeit länger als bei anderen, und von ihnen wird gesagt, daß sie sehr zurückgeblieben und furchtbar lange Kinder seien. Es wird so vieles gesagt!
»Komm mit, kleiner Rudy, hinaus aufs Dach!« Das war einer der ersten Sätze, die der Kater sagte und die Rudy verstand. »Alles nur Einbildung, das mit dem Herunterfallen; wer keine Angst hat, der fällt nicht. Komm, setz deine eine Pfote so, die andere so! Taste mit den Vorderpfoten, gebrauch deine Augen und sei geschmeidig! Wenn da eine Kluft ist, dann spring, und halt dich fest, wie ich es mache!«
Und das tat Rudy auch. Deshalb saß er so oft mit ihm auf dem Dachfirst, er saß mit ihm im Baumwipfel, ja, er kletterte bis zum Felsenrand, wohin es der Kater nicht schaffte.
»Höher! Höher!« sagten Bäume und Sträucher. »Siehst du, wie hoch wir klettern, wie hoch wir es schaffen, wie wir uns festhalten, noch an der äußersten schmalen Felsenspitze!«
Und Rudy schaffte es bis zum Gipfel und war oft noch vor der Sonne dort, um seinen Morgentrunk, die frische, stärkende Bergluft zu genießen. So einen Trunk kann nur unser Herrgott brauen, und wenn die Menschen das Rezept dafür lesen, dann steht geschrieben: der frische Duft von Kräutern des Berges und von Krauseminze und Thymian des Tals. Alles, was schwer ist, saugen die hängenden Wolken in sich auf, und wenn sie dann von den Winden in den Tannenwäldern gereinigt sind, wird der Atem des Duftes zu Luft, leicht und frisch und immer frischer; sie war Rudys Morgentrunk.
Die Sonnenstrahlen, die segenbringenden Töchter der Sonne, küßten ihn auf die Wangen, und der Schwindel lag auf der Lauer, wagte sich jedoch nicht näher heran, und die Schwalben von Großvaters Haus – es hatte nicht weniger als sieben Nester – schwangen sich zu ihm und seinen Ziegen auf und sangen dabei: »Wir und ihr! Und ihr und wir!« Sie brachten Grüße von daheim, sogar von den beiden
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