Weihnachten - Gedichte und Geschichten: Eine Weihnachtsgeschichte, Nußknacker und Mausekönig, Der Schneemann, Die Eisjungfrau, Schneeweißchen und Rosenrot, ... denkwürdige Neujahrnacht (German Edition)
denn zur Sommerzeit war es der Eisjungfrau im Grünen, wo die Krauseminze gedeiht, zu drückend heiß. Da erhob sich der Schwindel und bückte sich, es kam ein zweiter, es kamen drei – der Schwindel hat viele Geschwister, eine ganze Schar –, und die Eisjungfrau erkor sich den stärksten der vielen, die im Haus und außer Haus herrschen. Sie sitzen auf dem Treppengeländer und auf der Turmbrüstung, sie laufen wie Eichhörnchen über den Felsenrand, sie tun einen Sprung und treten Luft, wie ein Schwimmer Wasser tritt, und locken ihr Opfer zu sich und in den Abgrund. Der Schwindel und die Eisjungfrau, beide greifen sie nach den Menschen, wie der Polyp nach allem greift, was sich um ihn herum bewegt. Nun sollte der Schwindel Rudy greifen.
»Ja, den greif mir mal«, sagte der Schwindel, »ich schaffe es nicht! Der Kater, dieser Schurke, hat ihm seine Künste beigebracht! Vor diesem Menschenkind steht eine Macht, die mich wegstößt; ich kann an den kleinen Knirps nicht heran, wenn er auf einem Zweig über dem Abgrund hängt, und wie gern ich ihn unter den Fußsohlen kitzeln oder ihm eine Luftdusche verpassen möchte ich kann es nicht!«
»Wir können es!« sagte die Eisjungfrau »Du oder ich! Ich! Ich!«
»Nicht, nicht«, ertönte es da, wie das Echo der Berge auf das Läuten der Kirchenglocken. Es war aber Gesang, es waren Worte, sie kamen von einem verschmelzenden Chor, von anderen Naturgeistern, sanften, liebevollen, guten, den Töchtern der Sonne. Sie lagern sich jeden Abend im Kranz auf den Gipfeln, breiten ihre rosenfarbenen Schwingen aus, die um so mehr erröten, je tiefer die Sonne sinkt – das nennen die Menschen »Alpenglühen«. Nach Sonnenuntergang ziehen sie sich in die Felsenspitzen zurück und schlafen dort im weißen Schnee, um bei Sonnenaufgang wieder hervorzukommen. Sie lieben vor allem die Blumen, die Schmetterlinge und die Menschen, und unter diesen hatten sie sich ganz besonders den kleinen Rudy auserwählt.
»Ihr fangt ihn nicht! Ihr fangt ihn nicht!« sagten sie.
»Größere und Stärkere habe ich gefaßt und gefangen!« sagte die Eisjungfrau.
Da sangen die Töchter der Sonne das Lied vom Wandersmann, dem der Wirbelwind den Mantel wegriß und im stürmischen Flug entführte; der Wind nahm die Hülle, doch nicht den Menschen. »Ihr könnt ihn greifen, ihr Kinder der Kraft, doch ihr könnt ihn nicht festhalten; er ist stärker, er ist geistiger noch als wir! Er steigt höher als die Sonne, unsre Mutter. Er hat das Zauberwort, das Wind und Wasser bindet, sie müssen ihm dienen und gehorchen. Befreit ihn von der schweren, drückenden Last, und er wird sich noch höher erheben!«
So herrlich tönte der glockenhelle Chor.
Und jeden Morgen schienen die Sonnenstrahlen in das einzige kleine Fenster von Großvaters Haus und zu dem stillen Kind herein; die Töchter der Sonne küßten den Jungen, um jene Eisküsse aufzutauen, zu erwärmen und abzuwaschen, die ihm einst die königliche Gletscher-Maid gegeben, als er auf dem Schoß seiner toten Mutter in der tiefen Eisspalte lag und doch gerettet wurde, wie durch ein Wunder.
II. Die Reise in die neue Heimat
U nd nun war Rudy acht Jahre alt. Sein Onkel im Rhônetal, jenseits der Berge, wollte ihn zu sich nehmen, um ihm zu einer besseren Ausbildung und Förderung zu verhelfen. Das sah der Großvater ein und ließ den Jungen deshalb gehen.
Rudy sollte nun fort. Nicht nur vom Großvater mußte er Abschied nehmen, sondern auch noch von anderen Hausbewohnern. Da war zuerst Ajola, der alte Hund.
»Dein Vater war Postknecht, und ich war Posthund«, sagte Ajola. »Wir sind bergauf und bergab gefahren, auch jenseits der Berge kenne ich Hunde wie Menschen. Ich habe nie viele Worte gemacht; aber jetzt, wo wir wohl nur noch kurze Zeit miteinander reden können, will ich ein wenig mehr als sonst sprechen. Ich will dir eine Geschichte erzählen, an der ich all die Zeit geschleppt und herumgekaut habe. Begreifen kann ich sie nicht, und du kannst sie auch nicht begreifen, aber das mag nun einerlei sein, denn eins ist mir dabei klargeworden: So ganz richtig verteilt ist es nicht auf der Welt, weder für Hunde noch für Menschen! Nicht alle sind dazu geschaffen, auf dem Schoß zu sitzen oder Milch zu schlürfen; mir hat man so etwas nicht angewöhnt. Aber ich habe einen jungen Hund gesehen, der fuhr mit der Postkutsche und saß auf einem Menschenplatz. Die Dame, die seine Herrschaft oder deren Herrschaft er war, gab ihm aus einer Milchflasche zu trinken, und das
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