Weihnachten mit Mama
wird doch sowieso was dazwischen gehängt.
Sie: Die kannst du nicht alle zuhängen. Außerdem piksen die Nadeln.
Er: Kannst ihn ja mit Handschuhen dekorieren.
Sie: Und wenn ich die Kerzen anzünde, muss ich dann auch immer Handschuhe anziehen? Das ist doch absurd!
Er: So schlecht ist er gar nicht. Er ist irgendwie … ehrlich …
Sie: Ehrlich?
Er: Ja, er hat Charakter.
Sie: Du meinst so was wie »innere Werte«?
Er: Irgendwie, ja. Er steht mit seinem Stamm mitten im Leben. Er hat allen Stürmen getrotzt.
Sie rollt mit den Augen.
Verkäufer: Nehmen Sie den nun oder nicht?
Sie schüttelt den Kopf.
Er: Madame möchte einen Baum ohne Charakter. Einen, der wie George Clooney aussieht.
Sie: Das ist nicht fair. Ich möchte nur einen perfekten Baum.
Er: Ich finde, wir sollten einen Baum aussuchen, der zu uns passt.
Sie: Wie diesen kleinen Dicken mit der tollen Spitze?
Dieses Jahr nun war auf »den Baum« verzichtet worden, denn am Tag vor Heiligabend sollte nur der BMW mit Geschenken beladen werden, es ging auf die Autobahn, wo wir uns sicher nicht allein auf diesem Planeten fühlen würden. Auf die Frage, was sie sich zum Geburtstag wünsche, hatte Mama nicht wie sonst erwartungsgemäß gesagt: »liebe Kinder«, sondern einen sehr schlichten, jedoch geradezu perfiden Wunsch geäußert: »Dass ihr alle kommt.« Alle Lieben um sich zu versammeln, ist ein typischer Mama-Wunsch. Nun wünschte sie sich nichts anderes, als einmal alle ihre Kinder und Geschwister um sich zu haben, um sie nach Herzenslust verwöhnen und terrorisieren zu können.
Die Betonung lag auf alle , und damit kündigt sich in dem so unschuldig klingenden Wunsch bereits ein mittelgroßes Katastrophenszenario an. Denn alle hieß nun mal nichts anderes als alle, also, ich meine: wirklich alle . Verstehen Sie? ALLE in Großbuchstaben.
Das waren nicht nur die »Münsteraner«, also der älteste Sohn mit seiner netten französischen Frau, très charmante , das waren auch die »Traunsteiner«, also mein zwei Jahre jüngerer Bruder Robert mit seiner Frau Christina und seinen liebreizenden Kindern, den Zwillingen Jules und Jim, beide acht Jahre alt. Und meine Schwestern Laura und Dorle, Letztere mit ihrem Freund Max, denn er schien endlich einmal etwas »Festes« zu sein. Und meine Tante Charlotte, in einem früheren Leben Pianistin, heute Musiklehrerin im Ruhestand. Und Tante Karin, die jüngere Schwester meiner Mutter, mit ihrem Mann Bernhard. Und – nicht zuletzt – Oma Annerose, Elisabeth Siebenschöns Mutter und Friedrich Siebenschöns Schwiegermutter. Die komplexeste und robusteste Persönlichkeit auf diesem Planeten.
Wir alle hatten mit den Jahren eine gewisse Routine und auch Fantasie entwickelt, wie man die Eltern in den Weihnachtsparcours mit seinen diversen Erfordernissen einbaute, innerhalb von zweiundsiebzig Stunden verschiedene Stationen ansteuerte und dort »Geschenke abwarf« – wie Dorle es immer despektierlich nannte: bei Eltern und Großeltern, Schwiegereltern und Stiefeltern, Patenonkeln und Patentanten, Freunden und Verwandten und wem auch immer die Vorstellung unerträglich war, das Fest ohne diese nach und nach eintreffenden und wieder abreisenden Besucher zu verbringen.
Die Eltern in München traf es nun stets besonders hart: Sie lagen bei niemandem so richtig »auf dem Weg«, man musste sie präzise ansteuern, auf Umwegen einbauen und sie sonst wie routenplanerisch berücksichtigen. Und so war es halt, dass die »Münsteraner« sich nur alle zwei Jahre zu zweit auf den weihnachtlichen Weg ins Bayerische begaben, ich mich aber jedes Jahr am zweiten Weihnachtstag, nach »O du Fröhliche« am eigenen heimischen Herd, in den ICE setzte, um meine Aufwartung an der Stätte meiner Geburt zu machen. Julie blieb dann nicht allein in Münster, sondern besuchte ihrerseits ihre Eltern in Marne im Département Marne; ansonsten fanden wir uns alle am zweiten Weihnachtstag wieder ein, dessen Abend wiederum Julie ihrer besten Freundin Ruth vorbehalten hatte, die ja »ganz allein« war.
Robert, der nicht ganz so weit entfernt wohnt, nämlich im schönen Traunstein, traf am ersten Weihnachtstag mit seiner Sippe »zu Hause« ein, aber erst am Nachmittag, brach allerdings am frühen Abend wieder auf, um zu Tinas Eltern zu fahren, wo dann übernachtet wurde. Dorle rang jedes Jahr mit sich, Heiligabend bei den Eltern zu verbringen, wie es sich eigentlich für ein Nesthäkchen gehört. Wenn sie sich dazu aufraffte, stahl sie sich doch
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