Weihnachten mit Mama
Treueschwüren, Liebesbeweisen und Leichtsinnigkeiten, Ressentiments und alten Rechnungen, die an diesem Abend präsentiert und beglichen wurden. Zum Schluss lagen sich alle in den Armen, berauscht von Wein und Wehmut. Als Julie und ich uns verabschiedeten und endlich in unsere Hochzeitssuite zurückzogen, legte mein deutlich angetrunkener Vater einen Arm um mich und raunte mir ins Ohr: »Halt die Ohren steif, mein Junge. Und noch anderes, wenn’s geht.« Und Mama tupfte sich gerührt Tränen aus den Augenwinkeln und sagte immer nur: »Was für ein schönes Fest! Was für ein schönes Fest!«
Es kann also gar nicht anders sein: Geht eine Familie ruppig miteinander um, werden auch ihre Feste nie anders als ruppig sein. Kehrt eine Familie stets alles unter den Teppich, sind ihre Feste Hochämter der Langeweile. Hat die Familie einen allseits anerkannten Patriarchen – oder eine Patriarchin –, dann werden ihre Feste unweigerlich von dessen oder deren Launen bestimmt. Eine chaotische Familie wird nur Feste feiern können, die im Chaos untergehen.
So weit, so gut. Ganz originell ist diese Erkenntnis wahrlich nicht. Meine Familie hat allerdings das »Problem«, wenn man so will, alles das und auch noch das Gegenteil zugleich zu sein: liebevoll und ruppig, sympathisch und misstrauisch gegen alle und jeden. Und das macht sie vor allem: unberechenbar. Wir haben hinreißende Feste miteinander gefeiert, bei denen man sich unisono der Rührung und Begeisterung hingab. Wir haben grauenhafte Missgriffe in der Kommunikation zu beklagen gehabt, wenn alle nur aneinander vorbeiredeten und schließlich der Gott des Missverständnisses sein Zepter erhob. Wir konnten uns eine Zeit lang aus dem Weg gehen, aber eines Tages, bei irgendeiner Gelegenheit, irgendeinem Anlass würde man zweifellos wieder mehr aufeinandertreffen denn zueinanderfinden. Wir liebten uns, irgendwie, und hassten uns, irgendwie. Wir waren auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet wie jede andere Familie auch. Wir waren Fluch und Segen füreinander und sind es noch immer. Wir können einander verletzen wie niemand sonst es fertigbringen würde. Und wir können einander verzeihen und heilen, mit einer Inbrunst, die man nicht anders als mystisch nennen kann. Und wenn es schön war bei uns, dann machten wir unserem Familiennamen alle Ehre: Es war Siebenschön, sieben Mal so schön. Auch darum waren und sind unsere Feste vor allem eines: pures Pathos.
Meine Mutter, die Oberpathetikerin, hat nur wenig Humor, obwohl sie oft lächelt. Aber dieses Lächeln ist, so scheint es mir nicht selten, reine Konvention. Sie kann herrlich unkompliziert sein, aber die Fassade muss stimmen. Und sie nimmt alles, alles persönlich.
»Wie soll ich es denn sonst nehmen, wenn nicht persönlich?«, fährt sie mich manches Mal an, wenn ich sie darauf aufmerksam mache. Sie kennt keine Nachsicht, kein Erbarmen mit sich selbst und auch keine Demut. Sie hat keinerlei Distanz zu sich, sie kann nicht einen Augenblick von sich absehen oder gar über sich lachen. Das allerdings ist nicht nur eine Schwäche, sondern auch eine Stärke: Niemand auf dieser weiten Erde ist begeisterungsfähiger, couragierter, emotionaler, mitreißender, überzeugungsfähiger als meine Mutter. Alles oder nichts. Es kann anstrengend sein, mit einem solchen Menschen zusammenzuleben. Aber auch beflügelnd. Ihre Liebesfähigkeit kann grenzenlos sein. Und wenn sie mal über ihren Schatten springt, dann stets in unsere weit geöffneten Arme.
Mit Mama war und ist immer alles möglich.
Was meinen Vater betrifft, kann man sagen: Er hat sich arrangiert. Zu seinem Glück, muss ich hinzufügen. Er hatte vierzig Ehejahre Zeit dazu gehabt, im Umgang mit seiner »Betty« perfekte osmotische Fähigkeiten zu entwickeln. Er hat sich psychisch völlig auf seine Frau eingestellt. Er zieht sich zurück, wenn sie in den Vordergrund tritt. Er übernimmt beherzt das Kommando, wenn sie krank ist oder sich nur ausruht. Er überlässt ihr generös die Bühne, wenn er spürt, dass nur diese Rücksicht sie glücklich macht.
Sie hatten früh geheiratet. Sie waren noch Studenten, als sie sich das erste Mal begegneten, auf einem »Weißen Fest«, einem Schwabinger Künstlerfasching, den man in den Sechzigerjahren revitalisieren wollte. Es gibt sogar Fotos von ihrem ersten Abend: wie sie miteinander redeten, lachten und sich schließlich Arm in Arm von all der Ausgelassenheit zurückzogen, sich küssten und in den Zauberkreis der Liebe traten, den
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