Weihnachtsengel gibt es doch
ich weiß, dass ich wegen der ausgekugelten Schulter unter Schock stand. Ich habe auch gelesen, was bezüglich meines Alkoholpegels in der Zeitung stand. Er war für einen Weihnachtsabend gar nicht so ungewöhnlich hoch. Haben Sie sich an Weihnachten noch nie ein paar Gläschen gegönnt?“
„Nein“, sagte sie schlicht.
„Nun, das hätten Sie vielleicht, wenn Sie einen ähnlichen Abend wie ich gehabt hätten. Meine Erinnerung ist ungetrübt. Ich wünschte, es wäre anders, denn an diesem Abend sind Dinge geschehen, die ich lieber vergessen würde.“
„Was für Dinge?“
„Um das zu erklären, bräuchte ich die ganze Nacht. Ich will uns aber nicht in ein paar Eisskulpturen verwandeln. Außerdem ist es egal. Wichtig ist, dass ich mich an den Abend erinnere und auch daran, den Sicherheitsgurt angelegt zu haben.“
„Warum sollten Sie das noch so deutlich vor Augen haben?“
„Weil das bei mir einfach eine tief sitzende Angewohnheit ist. Ich habe meine ganze Kindheit damit verbracht, in Autos durch die Gegend gefahren zu werden. Der Grund, warum ich mich so gut an diesen Abend erinnere, ist, dass ich eine GANZE Weile im Auto gesessen und ernsthaft darüber nachgedacht habe, mich nicht anzuschnallen.“
„Warum haben Sie das getan?“
„Um es kurz zu machen, meine Freundin hatte an dem Abend mit mir Schluss gemacht. Ich war noch jung genug, zu glauben, das würde das Ende der Welt bedeuten. Ich fühlte mich grauenhaft und wollte irgendwie sterben, aber wenn ich das täte, würde ich ja den Rest meines Lebens verpassen, verstehen Sie?“
Es zuckte leicht um ihre Mundwinkel. „Lustig, wie das zusammenhängt.“
„Ja, eine lebenswichtige Karriereentscheidung sozusagen. Noch dazu eine, die man nicht rückgängig machen kann.“ Er spürte noch immer das kalte Metall der Gurtschnallen in der Hand. Er spürte und hörte das entschiedene Klick , als der Gurt einrastete. Es war einfach unmöglich, dass er sich irrte.
Außer dass der Untersuchungsbericht ihm in allen Punkten widersprach.
„Haben Sie sich jemals so gefühlt?“, wollte er von Maureen wissen. „Sind Sie jemals von jemandem so verletzt worden, dass es Ihnen egal war, ob Sie leben oder sterben?“ Denn genau so hatte er sich in jener Nacht mit Natalie gefühlt. Später, mit der Klarheit des Rückblicks, hatte er gesehen, dass der Akt des Heiratsantrags selber viel wichtiger gewesen war als die Frau.
Er erwartete, dass Maureen etwas unglaublich Praktisches sagen würde, zum Beispiel, dass es dumm war, einer anderen Person so viel Macht über sich zu geben. Doch sie überraschte ihn. Sie nickte langsam und sagte, „Ja, das habe ich.“
„Wirk lich?“
„Sagte ich doch gerade.“
„Wann?“
„Das ist privat.“ Sie schaute zur Seite und hob schnell eine liegen gebliebene Rolle Lautsprecherkabel auf. „Kein Wunder, dass sie von der Liebe genug haben“, sagte sie, und es war offensichtlich, dass sie nur seiner nächsten Frage zuvorkommen wollte.
„Wer sagt, dass ich von Liebe genug habe?“, fragte er.
„Sie haben beinahe Ihr Leben verloren. Das muss doch das letzte Mal gewesen sein, dass Sie jemandem Ihr Herz anvertraut haben.“
„Vielleicht lerne ich nur sehr langsam. An Weihnachten verlassen zu werden wurde beinahe etwas wie eine Tradition für mich.“
„Wissen Sie, was ich denke?“ Ohne auf seine Antwort zuwarten, fuhr sie fort: „Ich glaube, Sie versuchen, Weihnachten mit allen Mitteln für sich zu sabotieren.“
„Hey …“
„Und raten Sie mal? Dieses Jahr kommen Sie damit nicht durch. Dieses Jahr werden Sie ein großartiges Weihnachtsfest haben.“
„Weil ich es mit Ihnen verbringen werde?“ Ups, dachte er, als er sah, wie ein gedemütigter Ausdruck sich auf ihr Gesicht stahl und sie ganz steif wurde. Das hätte er wohl lieber nicht sagen sollen. „Ich ziehe Sie nur auf“, stellte er klar.
„Nein, Sie sind gemein. Das ist ein Unterschied.“
„Es tut mir leid, okay? Ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen.“
Das Gestell ihrer Brille war vermutlich aus Titan gemacht; es sah so hart wie eine Rüstung aus. „Okay“, sagte sie.
Er war sich nicht sicher, was sie damit meinte. „Hören Sie, ich verspreche …“
„Was?“ Skepsis strahlte aus jeder Pore ihres Körpers.
Gute Frage, dachte er. Es war so lange her, dass er irgendjemandem irgendetwas versprochen hatte. „Dass es schneien wird“, sagte er, weil ihm gerade die kaum sichtbaren ersten Flöckchen aufgefallen waren. „Das ist ein
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