Weihnachtsengel gibt es doch
erwartet, bei Fluten oder Waldbränden gerufen zu werden oder bei anderen örtlichen Katastrophen in erster Reihe mitzuhelfen. Doch stattdessen stand er nun in erster Reihe einer Kampfeinheit in einem gefährlichen, fremden Land.
„Du musst auch nicht lächeln“, schaltete Daisy sich ein und hockte sich hin, sodass sie mit Bear auf Augenhöhe war. „Dein Dad wird das verstehen. Ich habe einen Freund beim Militär, und er versteht, wenn ich Angst um ihn habe.“
„Mein Dad sagt, ich habe das tollste Lächeln“, sagte Bear.
„Willst du es dann mal versuchen?“, fragte Daisy.
Der Versuch des kleinen Jungen endete in einem zitternden Kinn und verkrampften Lippen, aber Maureen wusste, dass dieses Foto seinem Vater sehr viel bedeuten würde, wenn er es per E-Mail auf seinem weit entfernen Posten erhielt.
Der Weihnachtsbaum wurde immer schöner, je mehr er geschmückt wurde. „Es ist Zeit für den Engel auf der Spitze“, sagte Maureens Nichte Wendy. „Wer wird den Engel dieses Jahr aufstecken?“
„Das sollte Maureen tun“, sagte Daisy von hinter ihrer Kamera.
Maureen wich zurück. „Nein, ich könnte nicht …“
„Wir bestehen darauf“, schaltete sich Mr Shannon, der Präsident des Ausschusses, ein. Er nahm den kunstvollen Engel aus Seide und Glas aus der Schachtel. „Ihnen gebührt dieEhre, den Engel auf die Spitze zu setzen. Ich versichere Ihnen, die Leiter steht fest auf der Erde.“ Was er nicht sagte – was er nicht sagen musste –, war, dass dies das letzte Mal sein könnte, dass der Baum in der Bücherei aufgestellt wurde.
„Hier“, sagte Renée. „Ich halte die Leiter, während du hinaufkletterst.“
Maureen war zu stolz, um zuzugeben, dass sie Höhenangst hatte. Sie nahm den Engel und erklomm die ersten paar Stufen der Leiter. Ungefähr auf halbem Weg beging sie den Fehler, nach unten zu schauen. Der Boden kam ihr mit einem Mal sehr weit entfernt und unglaublich hart vor. Igitt. Sie musste sich mit beiden Händen festhalten. Also packte sie den Aufhänger des Engels mit ihren Zähnen, was vermutlich nicht sonderlich attraktiv aussah, aber besser war, als umzukehren. Während sie weiter hinaufkletterte, versuchte sie, sich abzulenken, indem sie sich auf all die schönen, selbst gemachten Ornamente konzentrierte. Sie waren über all die Jahre von den Kindern mit so viel Liebe und Hoffnung gebastelt worden. Auf einigen waren strahlende Gesichter über Buchtiteln zu sehen. Andere trugen kurze, handgeschriebene Nachrichten. Ich liebe die Bücherei. Lesen bringt Spaß. Es gab sogar ein paar Bilder von Maureen. Mit den Augen eines Kindes gesehen bestand sie nur aus einer großrandigen Brille und einem riesigen Dutt, aber alle Kinder hatten sie mit einem Lächeln im Gesicht gemalt, was ja auch schon mal schön war. Beinahe oben angekommen, erkannte sie einen sehr alten Baumschmuck, den sie als Kind gemacht hatte. Es handelte sich um ein kleines Porzellanrentier, auf dem seitlich stand: „Weihnachten ist Magie.“ Es war das weggelaufene Rentier aus Eddies Film. Sogar da schon, dachte sie.
Ohne einen Zwischenfall erreichte sie die oberste Stufe der Leiter und war nun nah genug, um den Engel auf die Spitze zu setzen. Das Problem war, dass sie den Fehler begangen hatte, nach unten zu sehen, und nun zu viel Angsthatte, eine Hand von der Leiter zu lösen.
Renée sagte etwas, aber Maureen hörte sie nicht. Alle Geräusche wurden von diesem panischen Rauschen in ihren Ohren übertönt, und ihre Höhenangst ließ die Welt aus den Angeln kippen.
„Alles okay da oben?“
Der Klang der bekannten Stimme fuhr ihr direkt in den Magen. Eddie Haven. Wann war er denn aufgetaucht? Den Engel immer noch mit den Zähnen festhaltend, riskierte Maureen einen Blick nach unten – und wünschte sich sogleich, es nicht getan zu haben. Eddie stand am Fuß der Leiter, wo vorher Renée gestanden hatte. Er schien direkt unter ihren Rock zu schauen.
„Alles in Ordnung“, murmelte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. Dann fragte sie sich, wie viele Menschen das nur wenige Sekunden vor Ausbruch der Katastrophe noch von sich behaupteten. Sie versuchte sich zu trösten, dass ihr Rock lang genug und ihre Strumpfhose dunkel genug war, sodass der Anstand gewahrt blieb. Allerdings war sie jetzt endgültig erstarrt, nicht mehr nur vor Angst, sondern auch vor Scham.
„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte Eddie.
Sie hätte schwören können, ein Lachen in seiner Stimme zu hören. „Alles okay“, sagte sie. Ihre Angst
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