Weihnachtsgeschichten am Kamin 04
spürte es. Und das blasse Kind weinte weiter vor sich hin.
Der Zug fuhr durch das Häusermeer rasch hinaus in die freie Landschaft. Hier war alles weiß geblieben. Kahle Bäume streckten ihre Zweige in die zunehmende Dämmerung. Ab und zu flog ein Licht am Fenster vorbei. Es begann wieder zu schneien.
Die Abteiltür wurde aufgeschoben. Ein Mann betrat das Abteil und fragte freundlich, ob noch ein Platz frei sei. Ich sah auf, die Stimme klang vertraut. Auch das Gesicht kam mir bekannt vor. Er lächelte das blasse Kind an, das aufhörte, vor sich hin zu weinen. «Ja, nehmen Sie doch Platz!» sagte der junge Mann so, als freue er sich über irgend etwas.
Die dicke Frau begann, in ihrer riesigen Handtasche zu kramen. Sie holte einen herrlichen roten Apfel hervor und betrachtete ihn nachdenklich. Dann streckte sie die Hand aus und fragte das Kind: «Möchtest du, Kleiner?» Das Kind lachte und griff nach dem runden Apfel. Die Züge der Mutter entspannten sich, und über ihren schüchternen Dank kamen die beiden Frauen ins Gespräch.
Ich betrachtete noch einmal das Gesicht des Mannes, der eben hereingekommen war. Wo hatte ich dieses Gesicht schon einmal gesehen? Der Zug verlangsamte seine Fahrt. Die Lichter eines Bahnhofs kamen näher. Die junge Mutter stand auf. «Wir müssen aussteigen», sagte sie und verabschiedete sich. «Warten Sie!» rief der junge Mann. «Ich helfe Ihnen.» Der Zug hielt.
Ich blickte aus dem Fenster. Dann sah ich sie über den Bahnsteig gehen; das Kind stapfte zwischen ihnen. Es lachte und winkte. Die Dicke winkte zurück.
Der Mann mit dem feisten Gesicht hatte sich in ein Buch vertieft. Es machte mich nicht mehr wütend, ihn anzusehen.
Ich blickte zur Seite. Er war noch da. Hatte ich befürchtet, dieser Mann, der mir so seltsam bekannt vorkam, sei ausgestiegen?
Der Zug rollte langsam aus dem Bahnhof. Draußen war es jetzt fast dunkel. Dicke Schneeflocken tanzten am Fenster vorüber. Lichter glänzten in der weiten Schneelandschaft.
Es wird Weihnachten, dachte ich, lehnte mich zurück, und während der Zug immer rascher dahinglitt, spürte ich das lange vergessene Gefühl der Freude in mir aufsteigen...
Walter Busch
Wie ich zu einem richtigen Rodelschlitten kam
Gegen Ende des Ersten Weltkrieges, ich war damals vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, bekam ich von meinen Eltern zu Weihnachten einen Schlitten geschenkt. Einen, den Vater aus allerlei Brettern und Leisten gebaut hatte. So ganz entsprach er nicht meinen Vorstellungen, weil er nämlich mehr einer Art länglicher Kiste als einem richtigen Rodelschlitten glich, wie ich ihn mir insgeheim gewünscht hatte. Aber immerhin war es ein Schlitten. Und da Vater ihn auch noch wunderhübsch rot und grün angestrichen hatte, freute ich mich trotz allem darüber.
So zog ich denn auch am Nachmittag des ersten Weihnachtstages gleich damit los zu einem in der Nähe gelegenen Rodelberg. Dieser war bereits von vielen Kindern bevölkert, die tobten und lärmten, wie sonst nur im Sommer in der Freibadeanstalt. Trotzdem war ich mit meinem Schlitten sogleich der Mittelpunkt des Interesses. Alle bestaunten ihn und wollten darauf einmal fahren. Das Gedränge war bald so groß, daß ich kaum selber dazu kam, mich daraufzusetzen. Als sich schließlich ein ungewöhnlich dicker Junge noch hinzugesellte und mich bat, auch einmal den Berg damit herunterrodeln zu dürfen, kamen mir angesichts seiner körperlichen Fülle allerdings Bedenken. Aber da er mir anbot, mir seinen Schlitten, einen richtigen Rodelschlitten, solange dafür zu überlassen, konnte ich der Versuchung, auf einem solchen einmal zu fahren, nicht widerstehen und willigte ein. Der dicke Junge, der sich gleich bäuchlings auf meinen Schlitten warf, kam damit vom Berg auch zunächst gut ab; als er dann aber in raschem Tempo über eine Bodenwelle hinwegsetzte, knallte er so hart am Boden auf, daß mein Schlitten unter ihm zerbrach wie ein Pappkarton. Ich war entsetzt und den Tränen nahe. Doch der dicke Junge erwies sich als großzügig. «Kannst meinen dafür behalten», entschied er kurz, nachdem er sich aufgerappelt hatte und sah, daß an meinem nichts mehr zu retten war. «Habe ohnehin zu Weihnachten einen ganz neuen bekommen», fugte er wie zur Erklärung für seine Großzügigkeit noch hinzu.
Mit etwas gemischten Gefühlen zog ich wenig später mit seinem Schlitten, auf den ich die Trümmer des meinigen geladen hatte, heimwärts. Einerseits konnte ich es noch gar nicht fassen,
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