Weihnachtszauber 02
ihnen nicht missgönnen, oder? Selbst wenn sie Seine Lordschaft wiedersehen würde ... Sicher war sie nicht so albern und affektiert, um sich in seiner Anwesenheit unmanierlich zu benehmen. Außerdem würden zahlreiche Gäste im Flete House weilen. Vermutlich würde er sie gar nicht bemerken. Doch bei diesem Gedanken fühlte sie sich keineswegs besser.
O Gott! Beinahe hätte sie laut gestöhnt. Was geschah mit ihr? In ihrem Gehirn herrschte ein heilloses Durcheinander. Seufzend richtete sie sich auf und kroch leise aus dem Bett, schlang ihren Schal um die Schultern und trat ans Fenster des Schlafzimmers. Zwischen den Vorhängen schaute sie zum klaren Nachthimmel hinauf, wo der Mond inmitten von Sternenmyriaden schwebte. Direkt in ihrem Blickfeld leuchtete ein Stern besonders hell. Sie legte einen Finger auf die Glasscheibe, als wollte sie ihn berühren. Da fiel ihr ein, dass bald der Tag des Heiligen Abends anbrechen würde, und sie erinnerte sich an all die vergangenen Weihnachtsabende. Wehmütig dachte sie an ihren lieben verstorbenen Papa, an ihre arme kranke Mama, an Tom und die Schwestern.
Und sie dachte an Jack Holberton. Irgendwie gewann sie den Eindruck, dieses Weihnachtsfest würde alles ändern. Alles in ihrem Leben ...
„Francesca?“, flüsterte ihre Mutter im Dunkel. „Stimmt etwas nicht?“
„Alles in Ordnung, Mama.“ Francesca wandte sich vom Fenster ab. „Schlaf weiter.“
Sie hörte, wie sich ihrer Mutter auf die andere Seite drehte. Dann legte sie sich wieder ins eigene Bett, neben ihre Schwestern, und schlummerte endlich ein.
Einen Tag nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag bog die Kutsche, die Francesca und ihre Familie abgeholt hatte, in eine breite gekieste Zufahrt.
Beim Anblick des majestätischen Herrschaftshauses, aus Portland-Steinen erbaut, seufzten die Lindens voller Bewunderung, und Francesca dachte an das armselige kleine Cottage, das sie zurückgelassen hatten. Deutlicher denn je wurde ihr bewusst, wie grundlegend Lord Holbertons Welt sich von ihrer unterschied.
Doch sie fand keine Zeit, um solchen Gedanken nachzuhängen, weil der Wagen in diesem Moment hielt. Die Familie stieg aus, und Sophy blinzelte verwirrt. „Hier wohnt Lord Holberton?“ So ein Gebäude hatte sie noch nie gesehen.
„Das ist der Landsitz seines Vaters, des Marquess of Flete“, erklärte Tom.
„Unglaublich“, meinte Lydia.
Wenn die Lindens allein schon die Fassade des Hauses imposant gefunden hatten –
die Innenausstattung raubte ihnen die Sprache. Die hohe Decke der riesigen Eingangshalle war mit Engelsscharen bemalt, und man glaubte, man würde in den Himmel schauen, sobald man den Kopf hob. An den Wänden hingen kostbare Gemälde und Spiegel in vergoldeten Rahmen, schwere goldene Brokatvorhänge schmückten die Fenster.
„Kommt, Mädchen, komm, Tom.“ In Mrs Lindens Stimme schwang eine neue Energie mit. Plötzlich wirkte die kranke Frau stärker und selbstsicherer, als hätte sie die Lebensfreude früherer Zeiten zurückgewonnen. Francesca bildete mit ihrem Bruder die Nachhut der kleinen Familiengruppe.
„Verdammt will ich sein“, murmelte er.
„Tom!“, zischte sie erschrocken.
„Einfach unfassbar, was für ein Leben manche Leute führen ...“
Dazu konnte sie nichts sagen.
Von höflichen Dienstmädchen wurden sie in ihre Räume geleitet. Mrs Linden bewohnte ein lila Gemach, Lydia und Sophy teilten sich ein gelbes Gästezimmer. Für Tom war ein kleiner Raum in gedämpften Brauntönen vorbereitet worden, die zu einem Gentleman passten.
Am Ende des Korridors, an dem sich die Schlafzimmer aneinanderreihten, schwang die Tür zu einem Raum in Cremefarbe und Rosa auf, für Francesca und Anne bestimmt. Hübsche gemalte Röschen schmückten die Tapete, rosa und weiße Teppiche bedeckten den Boden. Auf dem Vierpfostenbett, aus Eiche geschnitzt, lag eine elfenbeinfarbene Tagesdecke, mit winzigen rosa Rosen bestickt. Bleicher Wintersonnenschein strömte durch das große Fenster herein und ließ die kristallenen Wandleuchter funkeln. Im weißen Marmorkamin loderte ein helles Feuer.
Noch nie hatte Francesca ein schöneres Zimmer gesehen. Lächelnd lauschte sie den Geräuschen, die aus dem Flur hereindrangen. Türen wurden geöffnet und geschlossen, aufgeregt schwatzten Lydia und Sophy durcheinander.
Ein Lakai klopfte an und trug zwei schäbige Reisetaschen herein, die in dieser luxuriösen Umgebung völlig fehl am Platz wirkten. Während Anne die Matratze des Betts prüfte, sank Francesca
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