Weihnachtszauber 02
aufzuschreien.
Aber die Zeit war nicht stehen geblieben. Sie war inzwischen die verwitwete Countess of Derrington, hatte einen Sohn und Verpflichtungen. Er hingegen war ein berüchtigter Schwerenöter. Der Skandal, den er ausgelöst hatte, als er mit der verheirateten Lady Newcombe nach Frankreich durchbrannte und diese kurz danach im Kindbett in Calais starb, war immer noch in aller Munde.
Nein, ich kann es mir nicht leisten, mich wie das törichte, schwärmerische Mädchen von damals zu verhalten, überlegte Mary. Sie sollte Welbourne Manor auf der Stelle verlassen. Indes, sie wollte nicht abreisen, denn sie fürchtete, sie würde in Derrington Hall in ein tiefes Loch der trostlosen Trauer fallen, nachdem sie in Welbourne Manor an solch unbeschwerter Lebensfreude hatte teilhaben dürfen.
Sie wandte sich ab und trat frustriert gegen eine der Marmorsäulen, ohne daran zu denken, dass sie nur dünne Abendschuhe trug. Ein stechender Schmerz schoss ihr durch den Fuß. „Au! Verflixt!“
„Du solltest dich nicht hier im Dunkeln aufhalten“, sagte eine tiefe, volltönende Stimme hinter ihr. „Es gibt zu viele Dinge, über die man stolpern kann.“
Mary fasste sich an die Kehle. Auf einem Bein stehend drehte sie sich um und erblickte Dominick, der die Stufen zum Tempel hinaufstieg. Er war nicht vom Haus gekommen, sondern von dem Weg, der zum Teich führte, daher hatte sie ihn wohl nicht gesehen. Zudem bewegte er sich immer noch mit der Lautlosigkeit und Grazie eines Tigers, täuschend langsam und elegant.
Sein schwarzer Frack verschmolz mit der Nacht, doch das Mondlicht schimmerte auf seinem blonden Haar. Er musterte sie aufmerksam, als befürchte er, sie würde ihn statt der Säule treten.
„Bist du verletzt?“
Die Überraschung über ihr unverhofftes Wiedersehen hatte Mary ihren wunden Fuß für einen Augenblick vergessen lassen. Nun aber zuckte der Schmerz erneut heftig durch ihr Bein. „Nur in meinem Stolz, denke ich.“
Dominick lachte. Doch in seinem vertrauten Lachen klang eine Spur von Bitterkeit durch, als ob er – ebenso wie sie – in seinem Leben wenig Grund zu Fröhlichkeit gehabt hatte. „Ich glaube, nicht nur dein Stolz ist verletzt, denn wie ich sehe, wagst du es nicht, den Fuß zu belasten.“
„Meinem Fuß geht es gut.“
„Unfug. Setz dich, bevor du noch fällst.“
Ehe sie wusste, wie ihr geschah, umfasste er sanft ihren Ellbogen. Sie spürte die Wärme seiner Finger durch den Stoff ihres Seidenhandschuhs hindurch. Seine Nähe
– seine zärtliche Berührung – hatte noch immer dieselbe Wirkung auf sie. Sie weckte eine tief verborgene Sehnsucht in ihr und ließ sie erbeben.
„Siehst du, nun ist dir auch noch kalt“, sagte er und half ihr, sich auf eine der Marmorbänke zu setzen.
Amor sah sie vergnügt an, als hätte er dieses Treffen höchstpersönlich eingefädelt und Dominick zu einem nächtlichen Rendezvous mit ihr herbestellt.
„Du hättest im Haus bleiben sollen.“ Dominick kniete sich neben sie.
„Mir war nach frischer Luft. Offenbar erging es dir nicht anders“, sagte sie.
„Ich wollte eine Zigarre am Teich rauchen“, meinte er. „Und einen Augenblick allein sein.“
So wie sie. Jetzt aber waren sie allein miteinander, und seine Präsenz füllte den nachtschwarzen Raum, nahm jede Faser ihres Bewusstseins gefangen. Seine Wärme, seine Nähe, sein Knie dicht an ihrem Bein, der Duft nach Tabak und Seife, der ihn umgab – all das benebelte ihre Sinne.
„Ich nehme an, du hast kein Blindekuh-Spiel nötig“, sagte sie. „Die Damen laufen dir ganz offen in Scharen nach.“
Oh! Warum habe ich das jetzt gesagt. Mary biss sich auf die Lippe und wünschte, sie könnte die Worte zurücknehmen.
Dominick aber lachte bloß. „Wie kommst du darauf, Mary?“
Ihren Namen aus seinem Mund zu hören ließ sie erneut erschauern. Es war so lange her, dass sie diese vertrauliche Anrede von ihm vernommen hatte; dass sie einfach nur „Mary“ sein durfte.
„Ich sehe hier keine Scharen von Damen, du etwa?“, meinte er lächelnd. „Ich sehe nur dich.“
Er blickte sie an, und seine Augen schimmerten im Mondlicht in diesem überirdischen Saphirblau, von dem sie einst geglaubt hatte, sie würde sich für immer und ewig darin verlieren können. So gefangen war sie von seinen Augen, dass sie gar nicht bemerkte, wie er nach ihrem Bein griff. Erst als er ihr den Schuh vom Fuß streifte, wurde sie sich dessen gewahr. Kühle Nachtluft streifte über ihren bestrumpften Spann,
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