Weil du fehlst (German Edition)
der drei Schritte vor uns ging, per SMS um eine Chesterfieldzigarette.
»Was machst du denn hier?«, fragte Rabea überrascht, als ich sie mittwochnachmittags im Städtischen Krankenhaus besuchte, nachdem ich vorher meinen Führerschein bestanden hatte. Ich zeigte ihr die provisorische Driver’s licence.
»Hey! Prima!«, sagte Rabea und lächelte mir zu. Aber ich ließ mich nicht täuschen. Sie sah mitgenommen und weit weg aus. Müde, blass, der Mund – bis auf dieses kurze, gezwungene Lächeln – der vertraute, dünne Strich.
Ich sah mich um. Der Gang, in dem wir standen, war hell. Grünpflanzen, bunte Stühle, bunte Türen, ein Oberlicht. Warum machte es Rabea nur so zu schaffen, hier zu arbeiten? Was war falsch hier? Ich ließ meinen Blick über ihre Farben wandern, die in bekannter Art und Weise herumstanden. Es sah unsortiert aus, aber es war sortiert. Ob schranzige Krokodile, Hamster, Schnellportraits in einer vollgestopften Einkaufs-Mall zur Rush Hour – Rabeas Equipment war immer dasselbe. Ihre Pinsel, ihre Farben, ihre Wasserbecher, ihre Fläschchen mit Farbverdünner.
Eine junge Frau, die vorbeiging, oder eher schlich, streichelte die Grünpflanzen. Ein sehr dicker, schon älterer Mann summte laut und durchdringend, während er an uns vorüberschlenderte. Ab und zu schluchzte er trocken auf.
Rabeas Miene verspannte sich zusehends.
Eine Krankenschwester tauchte auf und führte den dicken Mann weg. Er schluchzte jetzt lauter und wütender.
»Meinst du, im Knast wird es besser als hier?«, fragte ich.
Rabea nickte.
»Warum?«
»Einmal werde ich dort mit den Leuten arbeiten – und nicht nur die Wände für sie bemalen«, antwortete Rabea leise. »Und zum anderen sind mir Einbrecher, Drogendealer und Schläger lieber als …«
Sie schwieg, als suche sie nach Worten.
»… als das hier«, sagte sie nach einer Weile aber nur und machte eine vage Geste, die diesen Gang oder die Menschen hier oder alles zusammen meinte. Sie sah gespenstig niedergeschlagen aus.
Zweimal Kunst :
Oyas Bildhauereikurs würde unter Mr Walentas Anleitung einen meditativen Skulpturenweg schaffen, mitten in der McKinley-Wildnis, die jetzt novemberkalt war. Einen Spiralweg aus Steinskulpturen. Der Kurs arbeitete dick eingemummelt in der Nähe des Steinbruchs auf einer Lichtung.
»Was wirst du machen?«, fragte ich Oya.
»Glück«, antwortete meine kleingroße Schwester kryptisch, mehr nicht. Sie lächelte mir zu, und ihr Blick verdüsterte sich erst, als ein paar Minuten später Rabea zur Tür hereinkam und sich mit zitternden Händen, wir sahen es beide, einen starken Espresso machte. Psychiatriewändestress.
Und ich? Ich sollte für Kunstgeschichte, die ebenfalls meine Ansprechlehrerin Mrs O’Bannion gab, das Bild Der Schrei von Edvard Munch interpretieren und anschließend ein Referat darüber halten. Menschen und Emotionen hieß unser Thema.
»Ich mag es nicht«, sagte ich niedergeschlagen zu Darius und starrte auf den Druck, den Mrs O’Bannion mir in die Hand gedrückt hatte. »Es … ist schrecklich. Und es erinnert mich immer an …«
»Woran?«, fragte Darius, weil ich nicht weitersprach.
Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, woran. Es ist einfach ein schreckliches Bild. Mehr nicht.«
Im Gegensatz zu mir hatte Darius es gut. Er hatte Der Mönch am Meer von Caspar David Friedrich abbekommen. Eins meiner absoluten Favorits.
Auf dem Gang zur Cafeteria begegnete mir Mr Rosen.
»Kassandra!«, rief er und machte mir ein Zeichen, einen Augenblick zu warten, da er noch im Gespräch mit Mr Walenta war. Ich blieb stehen. Alle Mädchen, die vorübergingen, warfen Mr Walenta Blicke zu. Er tat so, als sähe er sie nicht, aber natürlich sah er sie. Das war nicht zu übersehen.
»Danke, dass du gewartet hast«, sagte Mr Rosen schließlich, als Mr Walenta endlich weiterging. »Ich wollte dich nämlich um etwas bitten.«
Ich sah ihn fragend an.
»Aber du darfst auch Nein sagen. Versprich mir, dass du ganz ehrlich bist. Ich will dich nicht überrumpeln.«
»Worum geht es denn?«
Ich hatte es eilig, es hatte bereits geklingelt, und Mrs Feuer, meine Mathematiklehrerin, war Zuspätkommern gegenüber recht unduldsam.
»Es ist nämlich so, meine Frau und ich sind heute Abend auf einer kleinen Feier eingeladen, aber unsere Babysitterin hat die Grippe – und da wollten wir dich spontan fragen, ob du dir vielleicht vorstellen könntest, ein paar Stunden auf Lucilla aufzupassen. Sie wird bestimmt
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