Weil du fehlst (German Edition)
Zeichentrickfilm trägt. Blau, mit weißem Spitzenunterrock. Und sogar mit dem dazu passenden blauen Samthaarband. Wie habe ich dieses Kleid nur je vergessen können? Und wo ist es heute? Zur Hölle mit Rabea und dem Verschlampen unserer Besitztümer!
Und was bekam Oya an diesem Tag? Ein Peter-Pan-Kostüm mit grünem Spitzhut und roter Feder? Dazu den kleinen, obligatorischen Peter-Pan-Dolch? Ich sehe es vor mir: die gezackten Ärmel, die enge, dunkelgrüne Hose, die spitzen Peter-Pan-Schuhe aus weichem Leder.
Plötzlich schauderte ich.
Und zum Schluss kam wieder die Wolke, schwarz, laut, böse. Sie drängte alle anderen Erinnerungen fort und besetzte den Rest der Nacht. Ich starrte in die Dunkelheit, bis ein düsterer Schlaf mich rettete.
Dunkle Schatten und Begreifen. Greifbar nah.
Am anderen Morgen fühlte ich mich zerschlagen. Am liebsten hätte ich es gemacht wie Achmeds trauriger Großvater: Am liebsten wäre ich im Bett geblieben.
Aber ich stand auf.
ICH: Erinnerst du dich noch an dein Peter-Pan-Kostüm?
OYA: An was?
ICH: An dieses grüne Kostüm, Original Peter Pan, aus diesem Disney-Store. Rabeas Mutter hat es dir geschenkt. Weißt du nicht mehr?
Oya schüttelte den Kopf und kochte Tee. Außerdem schob sie Mohnbagels und Brownies zum Auftauen in den Ofen.
ICH: Das weißt du nicht mehr? Dieser kleine Dolch? Warum erinnerst du dich eigentlich nie an etwas? Ich denke, du bist so hyperintelligent!
OYA: Was hast du denn auf einmal dauernd mit Rabeas Eltern?
Ich schwieg. Rabeas Eltern. Sie waren unsere Großeltern, verdammt nochmal.
Später war ich mit meiner Mutter alleine. Ich hatte erst zur dritten Stunde Schule. Mrs O’Bannion war auf einer Fortbildung. Ich sah, wie meine Mom eine pflanzliche Beruhigungstablette schluckte. Okay, pflanzlich, aber trotzdem. Außerdem spülte sie sie mit einem Schluck Wein herunter, der noch vom Abend in ihrem Glas übrig war. Sie sah, dass ich sie ansah, und runzelte die Stirn.
»Ich bin durch mit diesen Klinikwänden, Kassandra«, sagte sie. »Heute ist mein allerletzter Tag … da.«
Sie fuhr sich über die Stirn, ein paarmal, als wolle sie etwas, was auch immer, fortwischen. Sorgen, Gedanken, Kummer, Beklemmung, vielleicht.
»Jetzt wird es wieder besser mit mir. Du wirst sehen. Nächste Woche fängt der Job mit meinen Gefangenen an.«
Wie das klang: meinen Gefangenen. Typisch Rabea. Durch und durch schräg und undurchsichtig.
Wir frühstückten und hingen dabei weitestgehend unseren Gedanken nach. Billyboy lag schlafend zwischen uns auf dem Tisch. Wir verscheuchten ihn beide nicht, was Seltenheitswert hatte.
Ein paar meiner Gedanken :
Das Rückwärtskarussell der vergangen Nacht. – Der düstere Junge, der hinter Raymond und mir hergegangen war, denn das war er gewesen: düster. – Mein halbfertiges Kunstreferat über Der Schrei . – Oyas Vergesslichkeit. – Peter Pan und Cinderella. – Die Wolke, die mich verfolgte …
ICH: Ach, ich besuche übrigens Grandma und Grandpa.
RABEA: Wen?
ICH: Oh Mann, Rabea: deine Eltern. Amanda und Ian, wenn es dir so lieber ist. Ich habe sie angerufen. Sie leben jetzt in Maine.
Stille.
Stille.
Stille.
ICH: Rabea?
RABEA: Warum denn das, um Himmels willen?
ICH: Keine Ahnung. Ich will es einfach.
In der Schule herrschte Vorweihnachtsstimmung. Die Woodrow-Wilson-Highschool plante mit allen Finessen die diesjährige Jahresabschlussfeier, die am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien stattfinden würde. Ich sah Oya, die vor dem Flur, der zu den Naturwissenschaften führte, Brendan küsste, ich sah Mercedes und Selma und ein paar andere Mädchen, die Girlanden und Länderfahnen aller an diese Highschool gehenden Schüler aufhängten, ich registrierte Milt – wie war doch gleich sein Nachname? –, der den Herbst-Poetry Slam gewonnen hatte und gerade hinkend in den Flur einbog, der zum Auditorium und den Räumen der Theater-AG führte. Und da war Darius, der auf mich zugestürzt kam wie ein Habicht.
»Hey, Kassandra, da bist du ja!«, rief er schon von weitem. »Hast du es schon wahrgenommen: Brendan, den Spinner, und deine Schwester?«
Den letzten Satz hatte er leiser gesagt, denn in der Zwischenzeit hatte er mich erreicht.
Ich nickte. »Wieso Spinner? Ich denke, er ist dein Freund?«, fragte ich irritiert und winkte dabei Mr Rosen zu, weil er zuerst gewinkt hatte. Er war auf dem Weg ins Lehrerzimmer, wie es schien.
»Los, um das zu klären, müssen wir in die Wildnis«, fuhr Darius eilig fort
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