Weil ich Layken liebe
Applaus nach jedem Stück lässt den Boden unter uns vibrieren. Ich habe das Gefühl, noch nie in so kurzer Zeit so viel gelacht und geweint zu haben. Es ist beeindruckend, wie es den Slammern gelingt,mich in ihre Welt hineinzusaugen und die Dinge aus einem völlig neuen Blickwinkel sehen und unmittelbar erleben zu lassen. Wie sie es schaffen, mir das Gefühl zu geben, ich selbst wäre die Schwangere, die ihr Ungeborenes verloren hat, der Sohn, der seinen Vater getötet, oder der Typ, der zum ersten Mal gekifft und danach gleich fünf Portionen gebratenen Speck hintereinander verdrückt hat. Ich spüre eine intensive Nähe zu diesen mir vollkommen fremden Menschen und ihren Geschichten – und vor allem zu Will. Die Vorstellung, dass er tatsächlich auch den Mut hat, sich auf diese Bühne zu stellen und andere in seine Seele schauen zu lassen, erfüllt mich mit wahnsinnigem Respekt. Ich würde ihn so gern dort oben erleben.
Wieder tritt der Moderator ans Mikrofon. »Noch jemand, der heute Abend mitmachen will? Das ist eure letzte Chance, Leute.«
»Will?« Ich drehe mich zu ihm um. »Du kannst mich nicht herbringen und mir sagen, dass es das ist, wofür dein Herz schlägt, wenn wir dann doch nur als Zuschauer hier sitzen. Ich würde so gern etwas von dir hören. Bitte tu mir den Gefallen. Bitte!«
Er drückt den Kopf gegen das Polster. »Oh Mann, Lake, du machst mich fertig. Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich nichts Neues vorbereitet hab.«
»Das macht doch nichts, für mich ist alles neu«, sage ich. »Oder machen dich die vielen Menschen hier nervös?«
Er neigt den Kopf und grinst mich an. »Nicht alle. Nur einer.«
In diesem Moment würde ich ihn am liebsten küssen.Stattdessen falte ich die Hände wie zum Gebet und sehe ihn mit Welpenblick an. »Zwing mich nicht, dich anzuflehen.«
»Das tust du doch schon!« Will sieht aus, als würde er kurz nachdenken, dann nimmt er den Arm von meiner Schulter und beugt sich vor.
»Okay, okay. Aber wehe, du beschwerst dich hinterher. Du hast es so gewollt.«
In dem Moment, in dem der Typ auf der Bühne die Finalrunde ankündigt, zieht Will seinen Geldbeutel aus der Hosentasche und steht auf. »Ich bin dabei!«, ruft er und winkt mit drei Dollarscheinen.
Der Moderator beschirmt seine Augen mit der Hand und blinzelt ins Scheinwerferlicht. Als er erkennt, wer es ist, grinst er breit. »Hey, das ist ja einer von uns! Mister! Will! Cooper! Höchstpersönlich! Schön, dass du dich in letzter Minute entschließt, doch noch mitzumachen.«
Will schiebt sich an den Tischen und Zuschauern vorbei und stellt sich vor das Mikrofon auf der Bühne.
»Und wie heißt das Stück, das du uns heute mitgebracht hast, Will?«, fragt der Moderator.
»›Tod‹«, antwortet Will ernst und sieht mir über die Köpfe der Zuschauer hinweg direkt in die Augen. »Es heißt ›Tod‹.« Und dann holt er tief Luft.
Es gibt nur eins, das unausweichlich ist
im Leben. Das ist der Tod.
Bloß drüber reden wollen die Leute nicht,
das macht doch nur traurig.
Das wollen sie sich nicht vorstellen:
Dass die Welt sich weiterdreht. Ohne sie.
Dass ihre Lieben eine Zeit lang trauern,
aber dann weitermachen. Ohne sie.
Dass ihre Kinder heranwachsen,
heiraten, ihr Leben leben.
Dass alles weitergeht. Ohne sie.
Ihre Sachen verkauft,
ihre Akte geschlossen,
ihr Name verblasst.
Erinnerung.
Das wollen sie sich nicht vorstellen.
Deswegen reden die Leute nicht darüber.
Lieber hoffen sie und beten, dass
er sie vergisst oder übersieht
und sich den Nächsten in der Schlange holt,
der Tod.
Sie haben sich das nicht vorstellen wollen,
dass es mal weitergehen muss. Ohne sie.
Aber dann hat er
sie doch getroffen,
frontal,
getarnt als Achtzehntonner
in einer Nebelbank.
Nein, der Tod hatte sie nicht vergessen.
Hätten sie ihm doch nur ins Auge gesehen.
Das Unausweichliche akzeptiert,
an das Danach gedacht,
an MICH.
Begriffen, dass es nicht bloß
um sie geht und ihre Angst.
Auf dem Papier war ich schon neunzehn,
aber wie alt ich mich fühlte,
stand auf einem anderen Blatt:
unvorbereitet,
überfordert,
verantwortlich
für das Leben von einem,
der gerade mal sieben war.
Tod.
Das Einzige, das unausweichlich ist im
Leben.
Will tritt aus dem Scheinwerferlicht und geht von der Bühne, ohne einen Blick auf den Tisch zu werfen, an dem die Juroren sitzen und Pappschilder mit ihrer Wertung hochhalten. Fast hoffe ich, dass er unterwegs von irgendetwas oder irgendjemandem aufgehalten
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