Weil ich Layken liebe
wird, damit ich Zeit gewinne zu begreifen, was ich da eben erfahren habe. Ich hatte ja keine Ahnung, dass das sein Leben ist. Dass Caulder sein Leben ist. Wills Auftritt hat mir buchstäblich den Boden unter den Füßen weggerissen.
Ich wische mir mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und kann selbst nicht genau sagen, ob ich weine, weil er seine Eltern verloren hat oder weil er diese ungeheure Verantwortung tragen muss oder weil das, was er gesagt hat, so verdammt wahr ist. Weil der Tod – wie ich aus eigener Erfahrung weiß – so vieles nach sich zieht, woran vorher keiner gedacht hat. Der Will, dem ich hinterhergesehen habe, als erzur Bühne ging, ist ein anderer als der, der jetzt zu mir zurückkommt. Ich bin verwirrt, aber vor allem verblüfft. Dass etwas so Trauriges gleichzeitig so wunderschön sein kann, ist mir nicht klar gewesen.
Will bemerkt, dass ich mir über die Augen wische. »Ich hab dich gewarnt«, sagt er, als er wieder neben mich rutscht. Er greift nach seinem Glas, trinkt einen Schluck und rührt dann mit dem Strohhalm in den Eisstückchen. Ich sitze stumm neben ihm. Er hat sein Innerstes vor mir ausgebreitet und ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll.
Doch dann übernehmen meine Gefühle einfach die Regie. Ich greife nach seiner Hand, er stellt das Glas auf den Tisch, wendet sich mir zu und lächelt abwartend. Als ich ihn nur stumm ansehe, streicht er mir mit dem Handrücken eine Träne von der Wange. Ich bin so durcheinander. Wie kann ich mich ihm nur so unglaublich nah fühlen? Das alles geht viel zu schnell, oder? Ich hebe seine Hand an meine Lippen und küsse die weiche Haut der Innenfläche, während wir uns in die Augen sehen. Und auf einmal gibt es in diesem Club nur noch ihn und mich. Alles um uns herum rückt in weite Ferne, sämtliche Geräusche verklingen.
Will legt die andere Hand an meine Wange und beugt sich langsam zu mir vor. Ich schließe die Augen und spüre, wie er seine Lippen ganz sanft auf meine legt und mich unendlich zart küsst. Die federleichte Berührung schickt eine Hitzewelle durch meinen Körper, obwohl sein Mund sich von den Eiswürfeln angenehm kühl anfühlt. Als ich den Kuss erwidere, löst Will sich von mir. Ich öffne die Augen und sehe ihn fragend an.
»Geduld«, flüstert er, mein Gesicht noch immer in seinen Händen haltend. Dann beugt er sich noch einmal vor und küsst mich mit geschlossenen Lidern zärtlich auf die Stirn. Ich mache die Augen zu und versuche dem überwältigenden Drang zu widerstehen, die Arme um ihn zu schlingen, ihn an mich zu pressen und leidenschaftlich zu küssen. Mir ist unbegreiflich, wo er diese Selbstdisziplin hernimmt. Will legt seine Stirn an meine und lässt seine Hände über meine Arme nach unten gleiten, bis sich unsere Finger treffen und miteinander verschränken. Unsere Blicke versinken ineinander, als wir gleichzeitig die Augen öffnen. Und das ist der Moment, in dem ich verstehe, warum meine Mutter mit gerade mal achtzehn wusste, dass sie und mein Vater füreinander bestimmt waren.
»Wow.« Ich atme aus.
»Ja«, stimmt Will mir zu. »Wow.«
Wir nehmen den Blick nicht voneinander, bis die Leute um uns herum plötzlich klatschen und johlen, weil die Namen derjenigen verkündet werden, die sich für das Finale qualifiziert haben.
Will drückt meine Hand. »Lass uns gehen.«
Ich nicke stumm. Als ich aufstehe, zittern meine Knie so sehr, dass ich Angst habe, sie könnten unter mir nachgeben. So etwas wie gerade habe ich noch nie erlebt. Noch nie .
Unsere Finger fest ineinander verschlungen, führt Will mich durch die Zuschauermenge aus dem Club und auf den Parkplatz hinaus. Mir wird erst bewusst, wie heiß mir war, als die kalte Nachtluft Michigans mich trifft. Plötzlich fühle ich mich unglaublich lebendig. Ist das die Kälte oder die Wirkungvon dem, was ich gerade erlebt habe? Ich kann es nicht sagen und weiß nur, dass ich mir wünsche, diese letzten beiden Stunden würden sich bis in alle Ewigkeit in Dauerschleife wiederholen.
»Wärst du nicht gern noch geblieben, um zu erfahren, wer gewinnt?«, frage ich.
»Lake, du bist drei Tage nonstop durchgefahren und hast danach bergeweise Kartons ausgepackt und Sachen eingeräumt. Du brauchst Schlaf.«
Unwillkürlich muss ich gähnen.
»Schlaf klingt gut«, sage ich.
Will öffnet die Beifahrertür, aber bevor ich einsteige, nimmt er mich noch einmal in den Arm und drückt mich an sich. Eine Weile stehen wir einfach nur da und halten uns – und
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