Weil ich Layken liebe
»Layken, Layken, komm mal mit raus. Ich muss dir was zeigen. Schnell!«
»Lass mich in Ruhe«, fauche ich. »Ich gehe heute nirgendwohin!«
»Bitte, Layken«, bettelt er. »Nur ganz kurz. Wir haben einen Schneemann gebaut!«
»Na gut, du Nervensäge«, seufze ich. »Aber ich muss erst Schuhe anziehen.«
Sobald ich meine Stiefel anhabe, packt Kel mich an der Hand und zieht mich zur Tür hinaus. Der Schnee glitzert in der Sonne, und es dauert einen Moment, bis meine Augen sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnt haben.
»Da drüben!«, höre ich Caulder rufen. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass er Will aus dem Haus geholt hat. Die beiden Jungs führen uns um meinen Jeep herum, und jetzt wird klar, wofür sie das Kool-Aid gebraucht haben.
Vor dem Wagen liegt ein überfahrener Schneemann. Seine Augen bestehen jeweils aus zwei winzigen, gekreuzten Zweigen, die Arme aus Stöcken, von denen einer zersplittert unter dem Hinterrad liegt. Kopf und Oberkörper sind mit roten Kool-Aid-Flecken gesprenkelt, die etwa dreißig Zentimeter von der Leiche zu einer knallroten Lache im Schnee führen.
»Wir sind leider zu spät gekommen und konnten nichts mehr für ihn tun«, sagt Kel ernst, bevor er und Caulder prustend zusammenbrechen.
Will und ich tauschen einen Blick aus und er lächelt mich zum allerersten Mal in dieser Woche an. »Wir brauchen eine Kamera. Das müssen wir fotografieren«, sagt er.
»Ich hole schnell meine!«, rufe ich und laufe ins Haus zurück.
Wird das von jetzt an immer so sein? Dass wir in der Schule oder in Gegenwart unserer Brüder miteinander reden und krampfhaft so tun, als wäre alles ganz normal, und uns ansonsten aus dem Weg gehen?
Als ich mit der Kamera zurückkomme, stehen die drei immer noch am Wagen und bewundern das Unfallopfer. Ich mache ein paar Fotos.
»Los, Kel, jetzt fahren wir einen mit Wills Wagen um!«, ruft Caulder und die beiden stürmen über die Straße.
Will und ich starren auf den vor uns liegenden toten Schneemann, weil wir beide nicht wissen, wo wir sonst hinsehen sollen. Schließlich hebt Will den Kopf und nickt in Richtung unserer Brüder.
»Die beiden haben echt Glück, dass sie sich haben«, sagt er leise.
Ich wiederhole diesen Satz in Gedanken und frage mich, ob er eine tiefere Bedeutung hat oder nur eine einfache Feststellung ist.
»Ja, das stimmt«, sage ich.
Nur wenige Zentimeter voneinander entfernt stehen wir da und sehen zu, wie Kel und Caulder Schneeklumpen vor dem Auto aufhäufen. Nach einer Weile holt Will tief Luft und streckt die Arme über den Kopf. »Tja, dann geh ich wohl mal wieder rein«, sagt er und wendet sich zum Haus.
»Will, warte.«
Er dreht sich um, schiebt die Hände in die Taschen und sieht mich stumm an.
»Ich wollte mich noch bei dir entschuldigen für … für die Sache gestern mit meiner Mutter«, sage ich, den Blick zu Boden gerichtet, weil ich ihm nicht in die Augen schauen kann. Es tut viel zu weh, ihn anzusehen.
»Dafür musst du dich doch nicht entschuldigen, Layken.«
Wir sind also endgültig wieder bei meinem offiziellen Vornamen angelangt.
Will schiebt mit der Schuhspitze den vom »Blut« rot gefärbtenSchnee zusammen. »Julia macht nur, was eine Mutter tun muss.« Er seufzt und fügt dann leise hinzu: »Sei deswegen nicht sauer auf sie. Du hast echt Glück, sie zu haben.« Dann dreht er sich um und geht zum Haus zurück. Während ich ihm hinterherschaue, habe ich fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil er und Caulder ganz allein auf der Welt sind, während Kel und ich immerhin noch unsere Mutter haben. Und plötzlich schäme ich mich für meine Wut und dafür, geglaubt zu haben, mich für Mom entschuldigen zu müssen. Es war meine Schuld, dass ich nicht schon viel früher mit ihr darüber geredet habe. Will hat wie immer recht. Es ist ein Riesenglück, dass ich sie habe.
Kel und ich haben schon zu Mittag gegessen und ich räume gerade die Küche auf, als ich im Bad die Dusche rauschen höre. Ich mache eine Kanne Tee und stelle einen Teller mit Nudeln von gestern Abend in die Mikrowelle. Als Mom zehn Minuten später in die Küche kommt und den Teller sieht, den ich ihr auf die Theke gestellt habe, lächelt sie matt und setzt sich.
»Soll das ein Friedensangebot sein oder hast du mein Essen vergiftet?«, fragt sie, während sie eine Serviette auf dem Schoß ausbreitet.
»Dir wird nichts anderes übrig bleiben, als es auszuprobieren.«
Sie wirft mir einen misstrauischen Blick zu, nimmt eine Gabel davon,
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