Weil sie sich liebten (German Edition)
Fünfzigern oder noch
früher. Wenn Owen durchs Dorf fuhr, gleich, durch welche Straße, hatte er oft
das Gefühl, die Zeit wäre stehen geblieben. Hier und dort sah man eine
Satellitenschüssel oder einen neuen Pick-up, aber die wirkten hier nicht wie
Teile der natürlichen Umgebung, eher als kämen sie von einem anderen Stern. Es
gab Peets Lebensmittelgeschäft, die Bücherei, das Rathaus, die Kirche. Es gab
eine Tankstelle gleich neben Sallys Qwik Stop, wo seine Schwester die besten
Donuts in ganz West-Vermont machte. Es gab keine Bank, keinen Geldautomaten,
keinen Drugstore. Wenn man so etwas brauchte, fuhr man über die Staatsgrenze
nach New York hinüber, aber nur wenn es gar nicht anders ging.
Manchmal kamen Touristen vorbei und schauten sich die Ahornprodukte,
die Carhartt-Overalls und die gewobenen Tischsets an. Aber eigentlich kamen sie
wegen des lokalen Immobilienanzeigers. Sie sahen ein Farmhaus mit zehn Zimmern
und zwanzig Morgen Land für den Preis ihres popeligen Zwei-Zimmer-Apartments in
Manhattan, und plötzlich nistete sich eine Idee ein, die sich meistens nur so
lange hielt, bis sie wieder aus dem Landkreis hinaus waren. Aber bisweilen
geschah es, dass ein junges Paar dem Traum folgte und eines der
heruntergekommenen Häuser in den Hügeln kaufte und renovierte, nur um,
spätestens wenn die Kinder zur Schule kamen, zu entdecken, dass eine Zehnstundenfahrt
zum Wochenendhaus auf dem Land eigentlich nicht das war, was ihnen vorgeschwebt
hatte. Dann dauerte es nur noch ein paar Jahre, bis im lokalen
Immobilienanzeiger ein briefmarkengroßes Bild des Hauses erschien, das nun weit
schmucker aussah als noch vor fünf Jahren – ein gutes Geschäft für Greason, den
einzigen Immobilienmakler am Ort.
Der Pastor, der zur Kirche gehörte, wohnte im Pfarrhaus nebenan. Es
gab einige Reihenhäuser, in denen Lehrer und Angestellte der Avery Academy lebten.
Die Häuser stammten noch aus der Zeit, als Avery eine Fabrikstadt gewesen war.
Damals wurden hier Knöpfe aus Zellstoff gefertigt, gewonnen aus dem Holz der
großen Wälder, die damals noch die Landschaft beherrscht hatten. Die Knöpfe
waren heute, wie Owen gehört hatte, eine Seltenheit.
Greason hatte ein Cape-Cod-Cottage, darin befand sich auch sein Büro. Bobby Peet wohnte über
seinem Laden. Aaron Davidson, der beim Gericht angestellt war, lebte zusammen
mit Gerri Burton, der Gerichtsstenografin, am Ortsrand in einem alten viktorianischen
Haus. Vicki Thornton hatte drei Kinder. Sie putzte im Internat. Natalie Beck
arbeitete in der Schulkantine. Eric Hunter, der in einer Wohnung in einem der
Reihenhäuser lebte, war der Schulgärtner. Wenn man die fragte, würden sie einem
alle das Gleiche sagen: Silas Quinney war anständig erzogen worden.
Owen hasste die Schule jetzt, aber die meisten Leute in Avery
konnten sich das nicht leisten. Wäre nicht die Schule dahergekommen, als die
Knopffabrik nach Süden verlegt wurde, wäre Avery längst von der Landkarte
verschwunden.
Für Owen und Anna jedoch hatte der Name Avery nie das Städtchen
bezeichnet. Avery, das war das Land. Wo sonst auf der Welt hatte man einen
Blick auf gleich zwei Bergketten mit einem Flusstal dazwischen? Der Boden war
nicht steinig wie in New Hampshire und auch nicht mit dichten dunklen Wäldern
überzogen wie in Maine. Um Avery herum stand vor allem Ahorn, rot und gelb, der
im Sommer das Licht einließ und sich im Herbst leuchtend rosa und golden
färbte. Bobby Peet hatte einmal zugegeben, dass er sein Geld zur Hälfte mit den
Touristen verdiente, die regelmäßig in den ersten zwei Oktoberwochen kamen, um
das prachtvoll verfärbte Herbstlaub zu bestaunen. Owen selbst wanderte gern den
Fußweg hinter seinem Haus hinauf, wenn die untergehende Sonne einen beinahe
blendenden Strahlenfächer zwischen den Bäumen ausbreitete. An solchen Tagen,
wenn die Luft klar und frisch war, fühlte er sich allein schon beim Atmen gesund.
Immer konnte er in der Luft Holzrauch riechen, der sich mit dem Geruch von
moderndem Laub und etwas anderem mischte – dem Geruch von Wachs vielleicht oder
Kürbis.
Silas war ein tüchtiger Junge. Einmal, als Anna und Owen nach Kanada
raufgefahren waren, um sich ein Zuchtschaf anzusehen, und Silas allein auf dem
Hof zurückblieb, hatte er ganz ohne Hilfe vierzehn Ferkeln ans Licht der Welt
helfen müssen. Anna und Owen hatten nicht erwartet, dass die Sau so bald schon
werfen würde, sonst hätten sie Silas nie im Leben allein gelassen. Es war
bitter kalt und eisiger
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