Weil sie sich liebten (German Edition)
Schneeregen fiel in Strömen, als Silas Owen anrief und
fragte: Was muss ich tun? Owen sagte, er müsse die
Ferkel nur auffangen und dafür sorgen, dass die Sau sich nicht wälzte und ihre
Jungen erdrückte. Owen stellte sich Silas vor, wie er auf den Knien lag und
krampfhaft versuchte, die glitschigen kleinen Teufel aufzufangen, während die
Sau die ganze Zeit nach ihm schnappte. Der Junge war damals erst sechzehn
gewesen. Und die Sau, die war normalerweise schon ein bissiges Luder und noch
bissiger, wenn sie warf. Silas rettete zwölf von den vierzehn Kleinen, die in
dieser Nacht geboren wurden, ein guter Schnitt. Als Owen und Anna nach Hause
kamen, fanden sie den Jungen im Stall, über und über voller Dreck und Blut und
mit einem leicht irren Grinsen im Gesicht. Owen wusste, wie ihm zumute war.
Silas sah aus wie Owen, aber er hatte eine andere Ausstrahlung. Owen
und Anna hatten ihn anständig erzogen. Man konnte jeden im Ort fragen, sie
würden es alle bestätigen.
Owen wusste nicht genau, wie es passiert war, aber er hatte seine
Theorien. Wenn er ehrlich war, konnte er nicht dem Mädchen die Schuld geben,
aber manchmal war er versucht, es zu tun.
All dies erzählte Owen einer jungen Wissenschaftlerin von der
Universität Vermont, die im Rahmen eines Forschungsprojekts recherchierte. Sie
war eine schlanke Frau mit rotem Haar, respektvoll in ihrem Verhalten. Sie
bohrte nicht nach. Sie wartete, bis Owen von selbst sprach. Er wusste nicht,
warum er sich mit ihr getroffen hatte. Er meinte, er habe etwas zu sagen, und
Anna, seine Frau, hörte ja nicht mehr zu. Seit das alles passiert war.
Sienna
I ch bin – ich meine, wehe es rührt mich
einer an, den bringe ich um. Haben Sie vielleicht einen Dollar? Ich brauche …
Hier ist ja überhaupt nichts drin. Nur ein Haufen Kleingeld. Ich habe meinen
Namen geändert. Ich habe mir selbst einen ausgedacht. Eigentlich hieß ich
anders, aber Sienna gefällt mir besser. Ich war traumatisiert. Ich musste eine
Ewigkeit in Therapie. Man kann sein Leben hinter sich lassen und ganz neu
anfangen. An das, was damals in Vermont passiert ist, habe ich nicht mehr
gedacht seit, ich meine, ich weiß auch nicht. Ich war das Opfer. Ich glaube,
ich schreib mal ein Buch drüber. Ich war vierzehn. Fast fünfzehn. Haben Sie
zufällig einen Stift da? Ich muss die Matheaufgabe hier fertig machen, bevor
der Unterricht anfängt. Einen Stift mit Radierer? Wollen Sie das in der Stadt
machen? Ich weiß, wo wir hingehen könnten. Ich musste ein Jahr aussetzen. Ich
hasse dieses Shirt. Ich hasse lila. Es ist nur, ich weiß auch nicht. Ich meine,
mir geht’s jetzt gut. Meine Mutter sagt, ich soll einfach vergessen, dass es
passiert ist, so tun, als wär’s nie passiert. W arum, fragen Sie? Ich glaube, das sollten Sie nicht mich fragen. Das sollten Sie die fragen. Mögen Sie
Starbucks? Da könnten wir hingehen. Hier fühle ich mich echt nicht wohl. Wenn
meine Mitbewohnerin reinkommt und das hier mitkriegt, löchert sie mich ohne
Ende. Aber ich sehe nicht ein, warum ich Fragen beantworten soll. Die nennen
das hier den zweiten Bildungsweg, man kriegt eine zweite Chance. Viele von den
Kids hier möchten einfach vergessen, was sie früher so gemacht haben. Ich
meine, Drogen und so, Sie wissen schon. Im Ernst, ich habe nichts zu Mittag
gegessen. Frühstücken tu ich nie, und wenn ich das Mittagessen ausfallen lasse
oder nur einen Joghurt esse, kann ich abends alles essen, was ich will. Ich bin
so froh, dass ich aus Vermont weg bin. Als wir das erste Mal nach Houston reingeflogen sind,
konnte ich die Bergkämme erkennen. Sie sahen aus wie gefalteter grüner Samt.
Ich konnte Straßen, Sportplätze, Baseballfelder und treibende Wolken unter mir
sehen. Die Flüsse dazwischen waren milchig grün. Und ich weiß noch, dass ich
dachte: Jetzt fängt ein neues Leben an. Ich kann alles sein.
Zum Beispiel Sienna. Ich kann sein, wer ich will. Ich konnte die
Wohnanlagen mit den riesigen Häusern erkennen, die Straßen waren aus weißem Beton,
und jeder hatte einen Swimmingpool. Ich habe versucht, die Schule aus der Luft
zu sehen, und ich glaube, ich habe sie auch gesehen – da war so ein Bau, der
wie eine Kirche aussah, und rundherum war alles grün, nicht braun wie hier das
Land meistens ist. Die Leute hier sind alle ziemlich fromm. In Avery mussten
wir einmal in der Woche in die Kirche gehen, donnerstagmorgens zum allgemeinen
Gottesdienst. Hier gehen sie jeden Morgen und beten und singen, aber es ist
nicht Pflicht.
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