Weine ruhig
er hatte einen Fahrkartenlocher in der Hand. Als er die Karten der anderen Passagiere, einschließlich unserer Begleiterin, gelocht hatte, wandte er sich uns zu. »Mädchen, fahrt ihr allein?«
Ich antwortete etwas zögernd: »Ja, wir wollen unsere Tante besuchen.«
Er sah sich um, und sein Blick ruhte auf unserer Begleiterin - sie wirkte unruhig. Dann blickte er uns noch einmal forschend an und schüttelte den Kopf, als würde er uns nicht glauben, ehe er in den nächsten Wagen weiterging. Ich bin Nieher, er ahnte, dass wir Juden waren. Vielleicht hatte er Kinder in unserem Alter und deshalb Mitleid mit uns. Jedenfalls blieb diese Begegnung ohne Folgen.
Nach einer langsamen Fahrt und Stopps in unzähligen Dör-fern kamen wir endlich an unserem Zielort an. Wir drei waren die einzigen Fahrgäste, die an dieser Station ausstiegen, fast der letzten vor der Grenze. Wir machten uns auf den Weg in das Dorf, das einige Kilometer vom Bahnhof entfernt lag. Von weitem sahen die Häuser klein und schäbig aus, und nur der Kirchturm fiel auf, wegen seiner Höhe und Eleganz. Der Weg führte durch endlose Getreidefelder, grüne Weizenspröss-linge bedeckten die weite Ebene. Die Bäume waren noch kahl, aber man konnte schon die Knospen an den Zweigen erkennen.
Der Himmel war grau und dunkel und passte zu unserer Stimmung. Die Frau sagte kaum ein Wort und stellte keine Fragen. Auch gab sie sich keine Mühe, uns ein wenig aufzuheitern. Sie war wirklich gefühllos und kaltherzig.
Langsam wurde es dunkel, die Sonne war schon untergegangen, und ich nahm an, dass wir unser Ziel nun sehr bald erreichen würden. Plötzlich blieb die Frau stehen und sagte: »Im Dorf sind noch Leute auf der Straße. Es ist zu gefährlich, euch mit zu mir nach Hause zu nehmen, solange es draußen noch hell ist und sie uns sehen könnten. Seht ihr die Kirche dort? Sie ist nicht weit weg. Da gehen wir hin, und ihr werdet dort auf mich warten, bis es dunkel ist. Dann werde ich kommen und euch mit zu mir nehmen.«
»Und wann werden wir über die Grenze gehen?«, wollte Ich wissen.
Sie sagte, wenn möglich, noch in dieser Nacht.
Als wir zur Kirche kamen, hatte ich ein sehr ungutes Gefühl. Das war nicht Teil der Abmachung gewesen, die meine Eltern in unserer Gegenwart mit der Frau getroffen hatten.
Ich war sehr aufgebracht darüber, dass sie uns allein lassen wollte, uns regelrecht verlassen würde - zwei verängstigte Mädchen an einem unbekannten Ort, in der Dunkelheit. Das hohe, elegante Bauwerk sah plötzlich sehr abweisend aus, sogar bedrohlich. Ein Großteil meines Unbehagens rührte aus der tief verwurzelten Ablehnung alles Christlichen, die man mir seit frühster Kindheit eingeimpft hatte.
Es stellte sich heraus, dass der Haupteingang abgeschlossen war. Wir gingen um das Gebäude herum, bis wir an einen kleinen Seiteneingang kamen, der offen war. Wir traten in einen dunklen Raum, von wo aus eine steile Treppe in den Kirchturm führte, zur Spitze mit der Glocke. Die Frau befahl uns, ihr zu folgen, und wir kletterten die steilen Stufen hinauf. Wir klammerten uns an das Geländer, um nicht zu fallen. Das wenige Licht, das durch die Öffnung im Turm fiel, erhellte die Wendeltreppe nur schwach. Wir stiegen endlos lange hinauf, bis wir oben waren. Unter dem Dach hing eine riesige eiserne Glocke, die fast den ganzen viereckigen Raum einnahm, und darunter stand eine Bank.
»Setzt euch hin und wartet, bis ich euch hole«, sagte die Frau barsch.
Meine Schwester Rachel klammerte sich an mich. Sie zitterte, und ihre Augen waren vor Angst riesengroß. Ich zitterte auch am ganzen Körper bei dem Gedanken, dass wir hier allein bleiben sollten, an einem Ort, den jeder Jude verabscheute, einer Quelle von Feindschaft und Hass.
Weinend bat ich die Frau: »Bitte, lassen Sie uns hier nicht allein! Gehen Sie nicht weg! Bleiben Sie bei uns, bis es dunkel ist.«
Aber sie erklärte, dass sie nach Hause gehen müsse, um die Vorbereitungen für die Reise zu treffen und um sich zu vergewissern, dass nichts schief gegangen sei. Sie nahm die Päckchen mit, bis auf den Proviant, und befahl uns, still sitzen zu bleiben und zu essen. Sie werde bald zurück sein, und wir
sollten keine Angst haben. Dann drehte sie sich um und ver-schwand, ohne uns noch eines Blickes zu würdigen.
Stille senkte sich herab, eine Stille, die so intensiv war, dass sie in den Ohren wehtat. Ein abgestandener Geruch lag in der Luft. Wir saßen aneinander geschmiegt da, wie zwei verängstigte
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