Weine ruhig
packte uns Verpflegung für die Reise ein, und ihr Mann gab uns Geld für die Fahrkarten. Wir selbst hatten kein Geld. Ehe wir gingen, schärfte uns der Mann ein, wie wir uns am Bahnhof verhalten sollten. Er sagte, er würde uns fast bis zum Bahnhof bringen und sich dann verabschieden. Wir sollten auf den Zug warten, der bald kommen würde, in einen Wagen einsteigen, uns hinsetzen und die Fahrkarten beim
Schaffner lösen. Wir sollten genau aufpassen und hinhören, wenn der Name unserer Stadt aufgerufen werden würde, und wenn der Zug hielt, sofort aussteigen. Der Mann sagte, es sei besser, wenn er nicht bei uns bleibe, da es dann für uns leichter sei, uns nicht als Juden zu erkennen zu geben. Rachel und ich verabschiedeten uns mit gemischten Gefühlen. Wir hatten Angst, allein zu fahren, aber wir waren glücklich, nach Hause zurückzukehren.
Kurz darauf standen wir auf dem schmalen Bahnsteig des kleinen verlassenen Bahnhofs und warteten. Als der Zug kam, stiegen wir in einen Wagen, der fast leer war, und setzten uns ans Fenster. Wieder hatte ich Angst. Was würde passieren, wenn sie merkten, dass wir Juden waren? Würden wir wohlbehalten zu Hause ankommen, ohne von der Polizei verhaftet zu werden? Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich allein reiste, und hier saß ich nun, hatte nicht einmal eine Reisegenehmigung, aber stattdessen eine kleine Schwester an meiner Seite, die den Tränen nahe war und vor Angst schlotterte. Aber wir hatten keine Schwierigkeiten beim Kauf der Fahrkarten, und das gleichförmige Schwanken des Zuges beruhigte uns und machte uns sogar schläfrig.
Während der ganzen Fahrt befürchtete ich, einzuschlafen und den Namen unserer Station zu verpassen. Rachel lehnte sich an mich, weinte leise, bis sie einschlief. Ich gab mir größte Mühe, wach zu bleiben, kniff mich sogar hin und wieder in die Wangen oder in den Arm (wie uns scherzhaft zu Hause geraten wurde, wenn wir schläfrig oder träge waren).
Endlich sah ich ein großes Schild mit dem Namen unserer Stadt. Der Zug verlangsamte seine Fahrt, hielt an, und wir stiegen schnell aus. Es mussten einige Stunden vergangen sein, denn es war fast zwölf Uhr mittags. Die Sonne strahlte, und es war angenehm warm, als wir losgingen. Wir mussten weit laufen, denn der Bahnhof befand sich am Stadtrand. Dann fingen wir an, so schnell wir konnten, in Richtung
Stadtmitte zu rennen, und bald erreichten wir unser Haus. Wir öffneten die Haustür und standen binnen Sekunden vor unserer Wohnung.
Noch heute, sechzig Jahre später, kann ich diese Szene bis ins kleinste Detail beschreiben. Es war Freitag. Die jüdischen Hausfrauen backten challot (Hefebrote) für Schabbat. Auch Mutter backte jede Woche eine challah. Aber als wir in die Küche kamen, bot sich uns ein seltsames Bild. Meine Tante -deren Mann mit einem der ersten Transporte deportiert worden war -, eine große, resolute Frau, knetete in einer Holz-schüssel den Hefeteig für die challah. Neben ihr standen zwei Wiegen, in jeder lag ein Säugling. Ihr ältester Sohn stand neben ihr und hielt sich an ihrer Schürze fest.
Mutter saß neben dem Herd und starrte ins Leere. Als sie uns sah, stieß sie einen kurzen Schrei aus, schlug die Hände zusammen und rief: »Träume ich? Bin ich verrückt geworden? Wie sind sie hierher gekommen und was machen sie hier?« Selbst als wir sie fest drückten, konnte sie es nicht fassen. Dann kam Vater herein, und wir umarmten einander und weinten vor Freude und Trauer. Mutter und Vater sagten, dass es offensichtlich so sein sollte, dass der Himmel es so gefügt habe. Kurz: »Es ist für alle das Beste!«
Schluchzend erzählten wir unser Abenteuer. Wir berichteten, dass die Frau herzlos und kalt gewesen sei und sogar unsere Kleider gestohlen und das Geld behalten habe, das sie als Anzahlung bekommen hatte. Aber Mutter und Vater trösteten uns. Sie sagten: »Das macht nichts. Wichtig ist, dass ihr hier seid, gesund und munter, und dass euch nichts passiert Ist.«
Plötzlich wurde ich von einer seltsamen Vorahnung erfüllt; Ich begriff, dass das Haus, in das wir zurückgekehrt waren, kein sicherer Hafen mehr war.
Das Versteck auf dem Dachboden
Damals, als kaum jemand in unserer Stadt ein Radio oder ein Telefon hatte, gaben die Behörden die Verordnungen durch einen Trommler bekannt, der uns mit einem Trommelwirbel ankündigte, dass er etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. Dann mussten sich die Menschen an einem bestimmten Ort einfinden, um sich die Bekanntmachung
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