Weine ruhig
Mutter und Vater den Brief unserer Verwandten in Ungarn überbrachte, in dem bestätigt wurde, dass wir wohlbehalten angekommen waren. Ich sollte zusammen mit meiner jüngeren Schwester Rachel fortgehen; Miriam, die Jüngste, würde bei Mutter und Vater bleiben. Aber die Kleine fing an zu weinen, war traurig, dass sie dableiben sollte. Sie bettelte darum, mitgehen zu dürfen - als ob wir einen Ausflug machen würden. Nach langem Zögern gaben Mutter und Vater nach und willigten ein. Mutter wurde beauftragt, einen kleinen Rucksack mit Kleidungsstücken zu packen, der für uns drei Mädchen nicht zu schwer sein durfte. Wir würden ihn ein paar Stunden lang tragen müssen, wenn wir zu Fuß über die Grenze gingen.
Mutter bereitete die Reise vor. Sie bestellte für uns bei der Schneiderin wunderhübsche Festtagskleider, kaufte jeder von uns ein neues Paar Schuhe zusätzlich zu denen, die wir tragen würden, und warme Pullover. Alles wurde eingepackt, und wir warteten auf den großen Tag, an dem die Bäuerin zu uns kam. Ich sah sie zum ersten Mal. Sie war groß und robust und trug eine Tracht - bunte bauschige Röcke, die übereinander gezogen wurden. Ihr Haar hatte sie mit einem bunt be-stickten Kopftuch bedeckt, und in der Hand hielt sie einen Weidenkorb. Ihre Schuhe waren grob gearbeitet und sehr groß, das Obermaterial war aus Leder und die Sohlen aus Holz.
Wir hätten keine Zeit zu verlieren, sagte die Frau und erklärte hastig ihren Plan. Sie wollte unsere Verpflegung und Kleidung in ihrem Korb tragen, um uns die Reise zu erleichtern. Am Bahnhof würde sie die Fahrkarten kaufen und sie uns dann geben. Wir würden getrennt in den Zug steigen, aber Im selben Wagen sitzen, jedoch nicht in ihrer Nähe. Wir dürf-ten nicht mit ihr reden, um keinen Verdacht zu erregen, bis wir ihr Dorf erreicht hätten. Natürlich entfernten wir den gelben Stern - was strengstens verboten war.
Schnell verabschiedeten wir uns, damit wir es uns nicht anders überlegen konnten. Wir kämpften alle mit den Tränen, als wir uns umarmten und wir Kinder den Segen für eine sichere Reise empfingen. Plötzlich ließ Miriam meine Hand los und brach in heftiges Schluchzen aus, sagte, dass sie nicht mitkommen, sondern bei Mutter und Vater bleiben wolle. Niemand versuchte, sie umzustimmen, und meine Eltern waren offensichtlich erleichtert, dass Miriam selbst diese Entscheidung getroffen hatte.
Der Abschied von Mutter und Vater fiel mir unendlich schwer. Eine Verwandte, die bei uns wohnte - ihr Mann war deportiert worden -, ging mit Mutter ins Haus. Mutter wurde hysterisch und fiel fast in Ohnmacht. Sie schrie und beschuldigte Vater, seine Töchter in den sicheren Tod zu schicken. Auf diese Weise mein Zuhause verlassen zu müssen war ein schweres Trauma für mich. Meine Erinnerung daran vermischt sich mit anderen Abschiedsmomenten, die ich in jenen Kriegsjahren erlebt habe. Die Qualen und Ängste, die diese Ereignisse begleiteten, haben sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gegraben.
Wir kamen zum Bahnhof. Früher liebte ich es, mit der Eisenbahn zu fahren, in die Ferien oder zu Verwandten oder zu Großmutter nach Ungarn. Aber diesmal erlebte ich die Bahnfahrt anders, bedrohlich. Während wir noch auf dem Bahnsteig standen, blickten uns die Fahrgäste feindselig an. Alle schienen zu wissen, wer wir waren. Und es war wirklich nicht schwer, unsere Identität zu erraten. Die meisten Bewohner der Gegend hatten eine helle Haut, blondes Haar und blaue Augen. Wir hingegen hatten einen dunkleren Teint, braune Augen und schwarzes Haar.
Wir folgten der Frau in einen der Wagons. Meine Schwester umklammerte meine Hand, die feucht war vor Anspannung. »Lass uns nach Hause gehen, ich fürchte mich«, flüsterte sie verängstigt. Ich sagte ihr, dass es jetzt kein Zurück mehr gebe und ich mich um sie kümmern würde, so wie ich es versprochen hatte. Im Zug saßen Bauern in bunten Trachten mit Weidenkörben voller Verpflegung und Sachen, die sie in Michalovce gekauft hatten. Als der Zug anfuhr, nahmen sie das Essen heraus und begannen zu kauen. Wir hatten auch etwas zu essen dabei, hatten aber beide den Appetit verloren.
Als der Schaffner kam, waren wir auf der Hut. Würde er merken, dass wir anders waren? Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Es war ein älterer Mann, etwa im Alter unserer Eltern. Er trug die Uniform und die Stiefel der Eisenbahngesellschaft; über seiner Schulter hing eine Tasche, die mit einem Ledergurt an der Taille befestigt war, und
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