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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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Kaninchen, und grauenerregende Gedanken schwirrten In unseren Köpfen herum. Immer wieder sah ich verängstigt hoch, zu der großen schweren Glocke, die über uns hing.
    Während wir uns gegenseitig trösteten, hörten wir plötzlich, dass unten die Tür aufging und jemand hastig die Treppe heraufkam. Dem Himmel sei Dank: Die Frau war zurückgekehrt, dachten wir. Aber einen Moment später sahen wir mit Entsetzen, dass die Glocke über unseren Köpfen anfing, hin und her zu schwingen - jemand zog an dem Seil, das an ihr befestigt war. Der Klöppel schlug an die Innenseiten, mit einem scharfen metallischen Klang, das Seil tanzte vor unseren Augen, und wir beobachteten es wie hypnotisiert. Wir hielten uns die Ohren zu. Nach einer Weile schwang die Glocke langsamer und stand schließlich still. Die plötzliche Stille ängstigte uns, wir waren auf der Hut. Was würde nun passieren? Würde derjenige, der an dem Seil gezogen hatte, nach oben kommen? Erst als wir Schritte vernahmen, die sich entfernten, und dann hörten, wie eine Tür ins Schloss fiel, waren wir beruhigt.
    Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, aber meine Schwester fing zu weinen an und sagte mit brüchiger Stimme: »Sieh dir die Glocke an, sie wird uns bald auf den Kopf fallen. Lass uns nach unten gehen.«
    Als große Schwester versuchte ich, sie zu beruhigen, aber Ich hatte dieselben Gedanken gehabt und genauso große Angst wie sie. Ich versuchte, sie dazu zu bringen, still zu sitzen und etwas zu essen. Aber sie weinte weiter, leise und traurig, und schmiegte sich in meine Arme. Ich hatte einen dicken Kloß im Hals, aber in meiner Rolle als große, verant-wortungsbewusste Schwester gelang es mir, die Tränen zurückzuhalten. Plötzlich hatte ich Angst, dass die Frau uns für immer in dem Kirchturm sitzen lassen würde. Wilde, schreckliche Fantasien gingen mir durch den Kopf - wir würden ermordet und niemals gefunden werden. Schließlich könnte unter diesen Umständen niemand etwas beweisen oder die Frau zur Rechenschaft ziehen. Wie grausam von ihr, uns eine solche Furcht einzujagen. Hatte sie keinen Gott?
    Ich weiß nicht, wie lange wir dort saßen und zitterten - es kam uns vor wie eine Ewigkeit. Endlich aber hörten wir, dass die Tür unten wieder geöffnet wurde und jemand nach oben kam. Wir waren so angespannt, dass wir nicht einmal zu atmen wagten. Was, wenn es ein Fremder war?! Rachel muss gedacht haben, wir befänden uns in einem Märchen, denn sie schrie: »Hör doch, die Hexe kommt die Treppe hoch und holt uns! Was wird mit uns geschehen?« Und sie vergrub den Kopf an meiner Brust.
    Aber wie sich herausstellte, war es die Bäuerin. Kaum hatten wir sie erkannt, hörten wir auf zu zittern. Sie sah uns an, als wollte sie sagen: Seht ihr, ich bin wieder da, kein Grund zu weinen! Wir waren erleichtert. Aber sie kam mit schlechten Nachrichten. Die Leute im Dorf würden schlecht über sie reden, sagte sie, und verdächtigten sie, etwas mit den Schmugglern zu tun zu haben. Deshalb könne sie uns in dieser Nacht auf keinen Fall mit zu sich nach Hause nehmen, und natürlich komme es jetzt auch nicht mehr in Frage, uns über die Grenze zu bringen.
    »Aber was passiert jetzt? Was wird aus uns?«, fragte ich schüchtern.
    »Im Dorf wohnt eine jüdische Familie«, sagte die Frau. »Ich bringe euch hin, und morgen früh fahrt ihr zurück in die Stadt, zu euren Eltern.«
    »Wie kommen wir zurück? Kommen Sie mit?« Aber als ich die Wut im Gesicht der Frau sah, wusste ich, dass sie nicht die
    Absicht hatte, uns zu begleiten, und dass wir auf uns selbst gestellt waren und uns allein auf den Weg machen sollten.
    Inzwischen war es völlig dunkel geworden, die Nacht hatte sich über das Dorf gesenkt und schien bis in unsere Seelen zu dringen. Wieder auf der Straße, nach dem Abstieg über die Wendeltreppe, konnten wir die Häuser nicht mehr erkennen, nur schwache Lichter aus weit entfernten Fenstern. Schweigend folgten wir der Frau, die nach wie vor keinerlei Anstrengung unternahm, unsere Ängste zu zerstreuen. Sie ging schnell, und wir hatten Mühe, mit ihr Schritt zu halten - wir hielten uns an den Händen und mussten fast hinter ihr her rennen. Immer wieder drehte sie sich um und drängte uns, schneller zu gehen.
    Die Hunde fingen wütend zu bellen an, was uns noch nervöser machte. Wir gingen etwa fünfzehn Minuten, aber es kam uns viel länger vor. Endlich kamen wir zu den ersten Häusern, und die Frau klopfte an ein Tor. Ein Mann mit einer

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