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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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Gardisten begegnet, die ihn mitnehmen wollten. Vater hatte kein Geld, also bot er ihnen seine teure Uhr an, um sie zu bestechen. Die beiden griffen nach der Uhr und machten sich aus dem Staub. Vater war der Meinung, dass sie gar keine Gardisten waren, sonst hätten sie ihn nicht gehen lassen. Nun war er glücklich, wieder da zu sein. Mutter ließ ihn schwören, nie wieder bei Tageslicht nach draußen zu gehen.
    Der erste Tag der Woche war immer etwas Besonderes, da Vincent mit einem Rucksack voller Lebensmitteln kam. Manchmal brachte er warme Suppe in einem Topf, meistens Kaninchensuppe, und Anna, seine junge Frau, begleitete ihn. Wir erkannten sie jedes Mal an dem besonderen Pfiff, den wir vereinbart hatten. Sie nahmen Seite an Seite in unserer Reihe Platz und brachten eine frische Brise Hoffnung und Zuversicht aus einer anderen Welt. Ihre Berichte über den Vormarsch der Alliierten und die sichere Niederlage der Deutschen gaben uns die Kraft durchzuhalten. Vincent zeigte uns stets freudig die Schätze, die er für uns eingesammelt hatte: zum Beispiel ein großes rundes Brot, das verführerisch duftete, Kuchen, Schweinefleisch oder Würste. Wir nahmen das Essen, das er uns brachte, dankbar an. Mit ungeheurer Befriedigung hörten wir, dass der Pfarrer in seiner Sonntagspredigt jedes Mal klar und deutlich sagte, dass gute Christen die Pflicht hätten, jenen, die in Not sind, zu helfen, sei es spirituell oder materiell.
    »Es ist falsch, irgendjemanden wegen seiner Religion, seiner Ansichten oder seiner anderen Sitten zu hassen, denn wir sind alle von Gott geschaffen«, sagte der Pfarrer. Auch dieser Kirchenmann gehörte zum Kreise derer, die sich tatkräftig an unserer Rettung beteiligten und uns mit dem Nötigsten versorgten. Wenn wir die Köstlichkeiten verzehrten, die uns der Pfarrer geschickt hatte - bis auf Vater natürlich, der alles, was nicht koscher war, nicht einmal anfasste -, fühlten wir uns auch durch das Wissen gestärkt, dass wir einen »Schutzpatron« im Dorf hatten.
    Es gab insgesamt viel zu wenige Beispiele von Größe und Mut und Menschlichkeit in der Slowakei während des Krieges, auch seitens des Klerus. Wir erfuhren auch, dass der Pfarrer, den die Dorfbewohner einen »Heiligen« nannten, ein Freiheitskämpfer und ein großer Humanist war, der zum katholischen Establishment gehört hatte. Doch als er offen gegen die Verfolgung der Juden protestiert und sich gegen das Regime gestellt hatte, war er strafversetzt worden. Für uns war es ein Glück, das man ihm nicht auch körperlich etwas zuleide tat, ihn nicht in ein Konzentrationslager steckte -wohl nur deshalb nicht, weil Präsident Tiso, der mit den Nazis kollaborierte und ebenfalls Priester war, mit unserem Pfarrer zur Schule gegangen war.
    Die Tage vergingen in trister Gleichförmigkeit. Wieder einmal beschlossen wir, dass die Zeit reif war, in ein neues, weniger verschmutztes Loch zu ziehen. Auf unserer nächtlichen Suche entdeckten wir einen ziemlich großen Keller, jedenfalls schien er für unsere Zwecke groß genug zu sein. Meistens wechselten wir den Ort, wenn der Gestank unserer Ausscheidungen - wir konnten die Eimer immer erst in der Dunkelheit leeren - unerträglich wurde.
    Pavel, der den drei Jungen weiterhin das Essen brachte, schlug eines Tages im November vor, dass ich zusammen mit seiner Tochter Clara, die sechzehn war, in die Stadt, nach
Anna Tokoly aus Jarok bei Nitra - sie und ihre Familie versorgten uns mit Nahrungsmitteln, als wir in einem Loch unter der Erde lebten
    Nitra, fahren sollte, um bei der jüdischen Geschäftsfrau das monatliche Geld für die Verpflegung der Jungen abzuholen. Vater und Mutter lehnten ab, sagten, es sei zu gefährlich. Ein heftiger Streit entwickelte sich. Schließlich gaben sie schweren Herzens nach, aber erst, nachdem sie die Einzelheiten des Plans gehört hatten. Ich würde mich wie ein Mädchen vom Land anziehen, mit Sachen von Clara, und auf diese Weise nicht auffallen.
    Aufgeregt verabschiedete ich mich. Ich freute mich, dass ich für eine Mission auserwählt worden war, die bedeutete, dass ich wenigstens einen Tag lang aus der Höhle herauskommen würde. Ich kroch aus den Eingeweiden der Erde hinaus und begleitete Pavel zum Dorf.
    Clara, die ich schon kannte, hatte eine Wanne mit heißem Wasser für mich vorbereitet, so dass ich mich waschen konnte. Das war für sich genommen schon ein Fest. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal wie ein Mensch gewaschen hatte. Nach dem

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