Weine ruhig
selbstgefällig, glaubten, dass sie verschont würden, dass der Sturm vorübergehen und »alles gut werden würde«.
Die Flüchtlinge wurden in die Gemeinde integriert. Jede Familie nahm einen der Neuankömmlinge auf und sorgte für ihn. Das war die Situation im Jahre 1941. Doch dann ...
Eines Tages kam ich von der Schule nach Hause und bemerkte, dass unsere Wohnung sich verändert hatte: Die kostbaren Teppiche waren verschwunden und mit ihnen die allen, vertrauten Farben, und der nackte Holzfußboden sah befremdlich aus.
»Was ist passiert?«, fragte ich und erfuhr, dass die Regierung ein neues Gesetz verabschiedet hatte, dem zufolge die Juden ihre Teppiche, ihre Gemälde und ihren Schmuck abliefern mussten, um die Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Da die Juden nicht zum Militärdienst herangezogen würden -sie galten als unzuverlässig sollten sie zumindest einen materiellen Beitrag leisten. Den Juden drohten strenge Strafen, falls sie versuchten, Schmuckstücke (außer Eheringen, die sie behalten durften) zu verstecken. Dieses Risiko ging jedoch fast jeder ein und versteckte einige Wertsachen für schwere Zeiten.
Selbst mein Vater, von Natur aus Optimist, der stets Vertrauen und Zuversicht ausstrahlte, wirkte beunruhigt und niedergeschlagen - und zwar nicht wegen des Verlusts der Teppiche, der Gemälde und des Schmucks, sondern weil er auch das Radio hatte abgeben müssen. Die Regierung wollte auf diese Weise sicherstellen, dass die Juden nicht an geheime politische Informationen gelangten. Vater hatte bis dahin regelmäßig BBC gehört. Tag und Nacht saß er endlose Stunden neben dem Radio, hoffte auf ermutigende Nachrichten von den alliierten Streitkräften und betete für ein baldiges linde des Krieges.
Doch es war nichts zu machen: Der Befehl lautete, das Radio auszuhändigen. Aber dann fand sich eine Lösung. Unser christlicher Nachbar, Vaters Freund aus Kindertagen, schlug vor, die Radios zu tauschen. Er würde Vater sein Radio geben, das klein war und einen schlechten Empfang hatte und das Vater den Behörden übergeben sollte. Dafür würde der Nachbar unser gutes großes Radio bekommen, und Vater könnte dann hin und wieder bei ihm die Nachrichten hören, wenn er ihn besuchte. Gesagt, getan: Das kleine Radio wurde der Behörde übergeben, und Vater hörte die Nachrichten in der Wohnung des christlichen Nachbarn.
Von Anfang an waren wir einer anhaltenden Flut von Gerüchten ausgesetzt. Manche waren unwahr, aber die meisten stellten sich unglücklicherweise als wahr heraus. Jedes noch so absurde Gerücht machte die Runde unter den verängstigten Juden der Stadt, die sich vor der Zukunft fürchteten. An einem Freitag im März 1942 zum Beispiel verbreitete sich das Gerücht, dass alle Mädchen und unverheirateten Frauen deportiert werden sollten.
Am nächsten Tag brachten meine Eltern durch ein hastig geführtes Telefongespräch in Erfahrung, dass die Mädchen im Nachbarort abgeholt, in Eisenbahnwagons gepfercht und mit unbekanntem Ziel deportiert worden waren. Das alles hörte sich völlig irrwitzig an, wie die Ausgeburt einer kranken Fantasie. Wir Mädchen sollten tatsächlich am helllichten Tag mitten im zivilisierten Europa entführt werden? Ein tiefer Abgrund schien sich aufzutun, und die Leute befürchteten, dass diesmal etwas wirklich Schreckliches passieren würde. Tugendhafte Mädchen, streng behütet, die nie unbegleitet das Haus verließen, wurden plötzlich aus ihren Familien gerissen. Ein lauter, verzweifelter Schrei gellte durch die Gemeinde, als wäre der Himmel eingestürzt. Ein Tag des Fastens und Betens wurde ausgerufen. Uns wurde mulmig. Was sollten wir tun? Wohin fliehen? Würde man die Mädchen tatsächlich zum Arbeiten in die Mittelslowakei schicken? Oder war das nur ein Vorwand, hinter dem sich etwas viel Schlimmeres verbarg?
Anfang März waren Gerüchte über ein Arbeitslager in Deutsch Eylau aufgekommen, in das Männer mit einer politischen Vergangenheit deportiert wurden, oder auch Männer, die verdächtigt wurden, mit linksgerichteten Parteien zu sympathisieren. Von dort transportierte man sie angeblich in Todeslager. Den Gerüchten zufolge war geplant, auch die übrigen jüdischen Männer zu verhaften und nach Deutsch Eylau zu deportieren. Jede Familie versuchte fieberhaft, ihre jungen Männer zu verstecken. Viele Männer, darunter sogar einige verheiratete, flohen über die Grenze nach Ungarn. Aber was würde hingegen aus den Mädchen werden? Niemand hatte sich je
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