Weine ruhig
paarweise aufstellen. Vorwärts, Marsch! Zum Bahnhof!«
Die Menge setzte sich in Bewegung, eskortiert von der Polizei. Frauen und Kinder durften nicht mit. Man befahl ihnen, wieder nach Hause zu gehen. Ein paar Polizisten versuchten sogar, sie zu beruhigen: »Wir haben Krieg, und auch die Juden müssen ihren Beitrag leisten. Sie werden den Soldaten helfen, und wenn der Krieg vorbei ist, werden sie alle wohlbehalten wieder nach Hause kommen.«
So wurden die Männer unserer Stadt zusammen mit den anderen slowakischen Juden in Zwangsarbeitslager gesteckt.
In der Folgezeit wurden weitere Gruppen zur »Arbeit« geschickt. Dabei handelte es sich meistens um Menschen, die versucht hatten, sich zu verstecken, aber verzweifelt aufgaben, weil sie in ihren Verstecken weder Brot noch Wasser hatten. Die Behörden fuhren fort zu behaupten, man schicke die Juden in ein Arbeitslager - bis uns die ersten Briefe aus Polen erreichten, mit Schilderungen der brutalen Bedingungen in den Konzentrationslagern und Gettos, die nichts mit einer Unterstützung der Armee zu tun hatten. Bei ihrer Ankunft trafen die Deportierten aus der Slowakei auf Juden aus Polen, die früher als sie eingesperrt worden waren. In den Lagern wurden sie gezwungen, unter extremen Bedingungen zu arbeiten, es herrschten Hunger und Kälte, und jeder, der nicht die Kraft und den Willen hatte durchzuhalten, brach zusammen und starb oder wurde »liquidiert«. Wir wussten noch nichts von der vorsätzlichen Massenvernichtung.
Die Kinder der Stadt besuchten weiterhin die jüdische Schule, als ob sich nichts verändert hätte. Tatsächlich fühlten wir uns zwischen den Kindern und Lehrern in der Schule sicherer als zu Hause. Die Schulroutine sorgte dafür, dass wir uns auf das Lernen konzentrierten und nicht an die Probleme der Erwachsenen dachten. Die Gemeinschaft der Kinder war vertraut und tröstlich; sie schenkte Ablenkung.
Unser Klassenlehrer war der Direktor selbst, der Mann, der die jüdische Schule gegründet hatte. Er war sehr pedantisch und streng, schwor auf konservative Erziehungsmethoden und zwang uns zu eiserner Disziplin. Wir begegneten ihm mit Ehrfurcht und spürten seine Distanz.
Das Lehrerkollegium der jüdischen Schule von Michalovce
Doch eines Morgens kam der Direktor in die Klasse und war unaufmerksam und in sich gekehrt, ganz anders als sonst. Wie immer erhoben wir uns, sahen ihn aber diesmal neugierig an. Fast unhörbar sagte er: »Setzt euch.« Selbst seine Stimme klang verändert.
Ein mutiger Junge traute sich zu fragen: »Was haben Sie denn, Herr Direktor?«
Und dann geschah etwas, das uns in unseren Bänken erstarren ließ. Dieser für gewöhnlich so strenge, beherrschte Mann weinte plötzlich bitterlich und sagte schluchzend: »Meine Schwester Esther« - sie war in unserer Stadt Kindergärtnerin - »ist abgeholt worden, und ich habe Angst, dass ich sie nie wiedersehen werde.«
Sein unerwartetes Verhalten und seine Tränen machten uns sprachlos, wir waren völlig überrascht von den Gefühlsregungen dieses Mannes, und das Schicksal seiner Schwester bekümmerte uns sehr. Auch wir brachen in Tränen aus. Wir legten die Köpfe auf die Tische und weinten, als spürten wir das Unheil, das auch über uns zu kommen drohte. Nach einer Weile beruhigte sich der Direktor wieder und begann mit dem Unterricht, als ob nichts passiert wäre. Vor kurzem hatte er Miriam geheiratet, eine andere Lehrerin, um sie vor der Deportation zu bewahren - es hatte viele Eheschließungen aus diesem Grund gegeben. Seine Schwester war offenbar unverheiratet.
Die meisten Mädchen und Männer der Stadt waren bereits deportiert worden, aber die wohlhabenden Juden und die führenden Mitglieder der Gemeinde konnten sich immer noch ihre Freiheit durch die Zahlung von Lösegeld erkaufen. Das war ihr »Beitrag zu den Kriegsleistungen«, statt »Arbeit«. Wir hatten dafür nicht das nötige Geld, so dass mein Vater weiterhin seine Tage in dem winzigen Raum hinter dem Kleiderschrank verbrachte und wir in der ständigen Angst lebten, er würde entdeckt werden.
Die Stadtverwaltung war mit der Zahl der Juden, die sich für die Transporte gemeldet hatten, nicht zufrieden und be-schloss, die Wohnungen all derer zu durchsuchen, die auf der Liste standen, aber nicht erschienen waren. Sie klopften an jede Tür, an der eine mesusa hing (als ob wir uns wieder in Gefangenschaft in Ägypten befanden und die Erstgeborenen getötet werden sollten, witzelten die Leute - der Unterschied war nur,
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