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Weinen in der Dunkelheit

Weinen in der Dunkelheit

Titel: Weinen in der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Herr Ratzi stand vor uns und gab den Ton an, wir begannen zu singen. Nach der ersten Strophe sangen wir nochmals die erste, und das wiederholten wir immer und immer wieder. Ich stand in der letzten Reihe und lachte. Herr Ratzi dirigierte wie ein Verrückter. Beim vierten Mal lachten alle Schüler, natürlich nicht die Lehren Wir verließen lachend die Bühne, aber ohne Applaus. Wütend brüllte Herr Ratzi:
    »Der Chor ist aufgelöst!«
Meine erste Ohrfeige
    Frau Ratzi kündigte, und wieder kam eine neue Erzieherin, Frau Stiefel. Sie wirkte unscheinbar und recht hilflos und besaß keine Autorität. Wir machten, was wir wollten; sie besaß nicht die Kraft, sich durchzusetzen. Wenn am Abend das Licht gelöscht wurde, hieß es:
    »Sie ist weg, jetzt geht's los!«
    Kopfkissen flogen durch die Luft, es wurde erzählt, gelacht und gespielt und Unsinn getrieben. Ein Mädchen mußte sich freiwillig melden und rausgehen. Schnell entfernten wir ein paar Metallhaken aus der Sprungfedermatratze des Bettes, setzten eine Schüssel mit Wasser hinein, legten das Laken darüber und anschließend das Kissen ans obere Ende und die Decke ans Fußende. So wirkte das Bett ganz normal. Wir holten das Mädchen herein, dann stellten wir uns alle an die Tür, denn nun sollten wir ohne Licht in unsere Betten springen. Das Mädchen sprang auch, ahnte aber etwas und hopste nur ganz vorsichtig. Dann schrie sie:
    »I, pfui!«
    Wir mußten lachen, denn sie war trotzdem in der Schüssel gelandet und naß geworden.
    Um 21 Uhr begann die erste Runde der Nachtwache. Gerade als der Krach am größten war, wurden wir erwischt, aber nicht von der Nachtwache, sondern vom Hausleiter selber, der seine Wohnung im Parterre unseres Hauses hatte. Er hielt sich nicht mit langen Reden auf:
    »Los, raus! Alle!«
    Wir mußten uns vor seinem Büro um einen Tisch stellen und so lange stehen, bis wir uns vor Müdigkeit nicht mehr auf den Beinen halten konnten. Unser Hausleiter, Herr Bohle, war sonst in Ordnung, er lebte schon immer mit seiner Familie bei uns. Mit seiner Tochter war ich befreundet. Er tat sehr viel für uns. Ihm verdankten wir unseren ersten Hausfernseher. Dafür sparten die Großen von ihren drei Mark Taschengeld monatlich. Er besaß für uns die notwendige Autorität, ohne sich dabei Mühe geben zu müssen. Er hatte immer Zeit für uns, hörte unsere Sorgen an und verstand es, kameradschaftlich mit uns über Probleme zu diskutieren.
    An diesem Abend müssen wir den Bogen wohl überspannt haben. Denn kaum hatte er uns ins Bett geschickt, ging der Krach erneut los. Die Müdigkeit vom langen Stehen war wie weggeblasen. Gegen Mitternacht stellte uns die Nachtwache wieder auf den Flur - an jede Zimmertür ein Mädchen im Nachthemd und mit Hausschuhen - da bog Herr Bohle nichtsahnend um die Flurecke. Als ich seinen Gesichtsausdruck sah, dachte ich an ein Donnerwetter, aber er tat etwas völlig anderes. Beim ersten Mädchen fing er an: Schelle. Arschtritt. »Ins Bett!« Er schritt den Flur entlang: Schelle. Arschtritt »Ins Bett!«
    Die Ohrfeige steckte ich gerade noch ein, beim Arschtritt war ich schon in meinem Zimmer verschwunden.
    Am nächsten Tag erzählten wir unser nächtliches Erlebnis der neuen Erzieherin, aber sie sagte nur:
    »Die Schuhspitze hätte euch im Arsch steckenbleiben müssen!«
    Nach dieser Äußerung war sie bei uns unten durch. Wir befolgten ihre Anordnungen überhaupt nicht mehr, und mit der Disziplin war es endgültig vorbei, bis eine neue Erzieherin kam.
    Es war die einzige Ohrfeige in meinem Leben von einem Erzieher. Wir mochten Herrn Bohle trotz der Schelle weiterhin; er tat, als sei nichts geschehen, und die alte Kameradschaft hielt bis zu seinem Weggang.
    1
    getaucht

Tod
    Ich war gerade zwölf Jahre alt, als ich erfuhr, wie schrecklich der Tod ist.
    An besonderen Tagen führten wir mit der Laienspielgruppe kleine, selbstinszenierte Stücke auf. Unsere Geschichte handelte von einem kleinen Jungen, der aus seinem Heim wegläuft, weil er sich nicht mehr waschen will. Unterwegs trifft er die Sumpfhexe. Sie findet ihn herrlich dreckig und versucht, ihn mit allen Zaubertricks davon abzuhalten, ins Heim zurückzukehren. Ich spielte eine Blume, und mein Text lautete: »Pfui, von so einem Schmutzfink lasse ich mich nicht pflücken!«
    Die Rolle des Schmutzfinken spielte Edgar, ein Waisenjunge. Er war älter als ich und der erste Junge, der mir gefiel. Wenn er lachte, hatte er statt der Augen nur noch zwei schmale Schlitze.
    Für ihn war

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