Weinen in der Dunkelheit
starb, kam sie trotzdem ins Heim. Und hier ließ sich der berühmte Patenonkel auch nie blicken. Dafür strebte sie alle Posten in der Pionierorganisation an, die man nur kriegen konnte. Bald war sie Gruppenratsvorsitzende und der Liebling der Erzieher. Sie versuchte, den Erziehern in allem nachzuäffen. Wenn einer von ihnen einmal fehlte oder später kam, kommandierte sie uns herum, aber dafür beschimpften wir sie mit Wörtern wie: Anschmierer, Anscheißer oder Streber, Da ich mir von ihr gar nichts sagen ließ, rächte sie sich einmal beim Abendbrot.
Der Hausleiter hielt nach dem Essen eine Rede. Im Saal war es mucksmäuschenstill. Jede Gruppe saß an einer langen Tafel, so hatte der Erzieher alle Kinder gut im Blick. Hätte man auch nur ein Wort geflüstert, wäre man aus dem Saal geflogen. Das war schon sehr peinlich, wenn dreihundert Kinder einem hinterherstarrten.
Plötzlich sah ich, wie Tanja einem Mädchen etwas ins Ohr flüsterte. Das ging durch die ganze Reihe wie »Stille Post«, und am Ende sahen mich alle Kinder an. Ich spürte, wie ich dunkelrot wurde. Keiner sah weg, ich wußte nicht mehr, was ich machen sollte, es war eine Folter ohne Worte und Schmerz.
Ich mußte etwas tun, aber was? Mein Blick fiel auf die Stullen und die Margarine. Da kam mir eine Idee, wie ein Blitz schoß mir der Gedanke durch den Kopf. Langsam, ganz ruhig beschmierte ich eine Stulle dick mit dem Fett und stand auf. Nun schauten alle Kinder auf mich, staunend, daß ich es wagte, die Rede des Hausleiters zu unterbrechen. Aber nun war mir alles egal, noch röter als eine Tomate konnte ich nicht mehr werden. Ich schritt durch die Reihen auf Tanja zu, die mich verständnislos ansah. Mit der linken Hand griff ich in ihren Nacken und drückte ihr mit der rechten die Stulle so lange ins Gesicht, bis sich die Nase durch das Brot bohrte. Dann ging ich auf meinen Platz zurück. Kein Mädchen sah mehr zu mir, alle schauten Tanja an und lachten schallend. Der Hausleiter sagte kein Wort. Er wartete, bis es wieder still war, und setzte seinen Vortrag fort, als sei nichts geschehen.
Wir zogen die Köpfe ein, denn wir wußten, die Strafe würden wir von unserer Erzieherin bekommen, und das war schlimmer. Aber ich war zufrieden.
Der Chorleiter
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wie viele Erzieher und Lehrer ich insgesamt hatte. Eines Tages kam wieder eine neue Erzieherin, Frau Ratzi, eine ehemalige Opernsängerin. Sie war einmal adlig, erzählte sie uns und eigentlich hieß sie Susanna von Pukliz. Wir fanden sie nett, sie kam gut mit uns aus. Warum sie keine Opernsängerin mehr sein wollte, erzählte sie uns nicht, aber abends sang sie uns im Schlafraum wunderschöne Lieder vor. Sie hatte eine herrliche Stimme, wir konnten nicht genug davon hören. Bald darauf kam ihr Mann ins Heim und gründete einen Chor. Zuerst waren wir alle begeistert, aber dann wollte er wohl Opernsänger aus uns machen, und das gefiel uns nicht. Stundenlang mußten wir denselben Ton singen. Viel lieber hätten wir draußen gespielt, doch seine Frau zwang uns, in den Chor zu gehen.
Nicht allen machte das Singen Spaß, und schon gar nicht mir, ich war total unbegabt und hatte in Musik eine Vier. Herrn Ratzi schien meine Stimme zu gefallen, und er sagte: »Ursula, komm nach vorn.«
Dann sollte ich einen hohen Ton nachsingen. Erst fing die letzte Reihe an zu lachen, dann lachten alle Mädchen. Ich kam mir so albern vor, daß ich mitlachen mußte. Plötzlich riß Herr Ratzi an meinen Haaren, zog meinen Kopf nach hinten und brüllte mir ins Gesicht:
»Wenn du meine Tochter wärst, würde ich deinen Kopf an die Wand klatschen.«
Mir traten vor Wut und Schmerz Tränen in die Augen, aber ich heulte nicht los, sondern rief laut: »Gott sei Dank bin ich nicht Ihre Tochter!«
Ein anderes Mädchen schrie er an:
»Bilde dir bloß nicht ein, weil du schon ein paar Titten hast, daß du hier machen kannst, was du willst!«
Die Mädchen lachten nicht mehr, sie standen alle auf, und gemeinsam gingen wir aus dem Zimmer.
Wir wollten aus dem Chor austreten, aber Frau Ratzi ließ das nicht zu. Sie hoffte, mit Hilfe ihres Mannes einen berühmten Chor auf die Beine zu stellen. Doch Herr Ratzi benahm sich immer unmöglicher. Wenn ein Ton nicht stimmte, brüllte und spuckte er über den Flügel.
Unser erster und letzter Auftritt war am »Tag des Lehrers«. Wir sollten auf der Freilichtbühne vor der gesamten Schule unsere einzigartige Leistung zeigen. Jetzt rächten wir uns.
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