Weinland & Stahl
erspüren...
Es gelang ihr nicht, Witterung aufzunehmen.
Leichter Regen nässte ihre Kleidung, derer sie sich jetzt entledigte.
Kleidung...
Noch vor wenigen Tagen hatte sie keine Kleidung benötigt. Bei ihrem Erwachen nach 98 Jahren Schlaf hatte sie von ihrer Mutter ein
lebendiges
Kleid geerbt, einen Symbionten mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten, der auf und
von
ihr gelebt hatte. Sie schauderte, als sie daran dachte, was sie da wirklich zwei Jahre lang auf dem Körper getragen hatte: die
Haut
der Lilith.
Solange sie mit dem Mimikrystoff in Symbiose gelebt hatte, war es ihr stets wie ein Fluch erschienen, seiner Willkür ausgeliefert zu sein. Nun, da sie ihn verloren hatte, vermisste sie manche seiner Eigenschaften, denn er hatte sie – auch in der Verwandlung – überall hin begleitet.
Nackt wie sie einst geboren worden war, stand sie noch sekundenlang im Regen und lauschte dem Gefühl, das die Wassertropfen und Rinnsale auf ihrer Haut verursachten.
Es war ein hoffnungweckendes Gefühl von Sein.
Dann löste sie den Impuls aus, der sie zu dem geflügelten Tier werden ließ, dessen ledrigen Schwingen mühelos den hohen Zaun überwanden.
Entschlossen näherte sie sich der Wirkungsstätte ihrer Feinde.
Wenn Gott eingeschritten war, wenn er überhaupt irgendetwas in Gang gesetzt und verändert hatte, dann musste es
hier
Niederschlag gefunden haben.
Hier, wo ununterbrochen Verbrechen wider die Menschlichkeit begangen wurden...
Borak hatte moderne Wissenschaft und Forschung mit Magie verknüpfen wollen, um eine neue Generation von Vampiren heranzuzüchten. In der Genschmiede
Salem Enterprises
waren Wesen herangereift, die mit der Alten Rasse kaum mehr etwas gemein hatten.
Außer dem Durst nach Blut...
Das war die Situation gewesen, bevor Heaven ihre Bestimmung gefunden hatte.
Gefunden – und erfüllt?
Sie wusste, dass sie von der Antwort nur noch einen Flügelschlag entfernt war.
Heaven wählte den Weg, den sie auch damals genommen hatte.
Sanft setzte sie auf dem kiesgefüllten Flachdach auf und verwandelte sich noch während der Landung in ihre menschliche Gestalt zurück. Unwillkürlich duckte sie sich, weil ihre Silhouette sich gegen den Mond abzeichnete wie ein Scherenschnitt.
Doch es schien, als wäre jegliche Vorsicht unbegründet.
Sie lauschte, mit angespannten Sinnen, und erspürte – nichts.
Drei Schritte entfernt befand sich ein gewölbtes Oberlicht. Heaven schlich darauf zu, löste die Verriegelung und spähte in den kahlen Gang darunter.
Leer. Keine Menschenseele, und auch keiner der
Nicht-Menschen
...
Heaven forcierte ihre Anstrengungen. Bemühte Sinne, die kein Mensch besaß. Lauschte mit dem, was von ihrer Mutter in ihr war. Das sie die Nähe von Vampiren fühlen ließ.
Sie vernahm nichts.
Und doch... war etwas anders als zuvor. Als würden ihre vampirischen Sinne nicht einfach nur ins Leere tasten, sondern... gar nicht vorhanden sein!
»Du bist ein bisschen angespannt, das ist alles«, bezwang Heaven ihre Zweifel und ließ sich katzengewandt durch die Öffnung hinab in den Gang.
Von ihrem letzten Besuch her wusste Heaven, wo in etwa die Laboratorien untergebracht waren, in denen die Neue Rasse herangezüchtet wurde. Ebenso erinnerte sie sich noch an die Videokameras, die jeden Teil des Komplexes überwachten. Sie war nicht sicher, ob die Kameras sie 'sehen' konnten oder ob ihr vampirisches Erbe sie davor schützte. Genauso wenig wie sie wusste, ob am anderen Ende überhaupt noch jemand saß, der die Monitore überwachte. Trotzdem versuchte sie den Erfassungsbereichen so gut es ging auszuweichen, während sie durch Korridore und über Treppen schlich.
Sie begegnete niemand.
Was war mit den Menschen und Vampiren geschehen?
Eine Tür.
Und dahinter –
– Geräusche?
Laute, wie Heaven sie nie zuvor gehört hatte. Es gab nichts in ihrer Vorstellung, was sie hätte verursachen können.
Das Elektronikschloss der Tür lief offensichtlich Amok. Über das Display huschten sinnlose Zeichenketten, in rasender Geschwindigkeit.
Ohne auf ein Ergebnis zu hoffen, drückte Heaven eher beiläufig gegen die Tür, zuckte zurück, als sie aufglitt –
– und schrie auf, als sie sah, was sich dahinter befand!
In der Luft hing ein Geruch von vielen kleinen, allmählich wieder verloschenen Bränden, und kalter Rauch hatte sich wie eine Patina über das Doktor-Frankenstein-Szenario gelegt.
Manche der gläsernen Wannen, in denen Klone von quecksilbriger Nährlösung
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