Weinland & Stahl
schlüpfen konnte. Dort verharrte sie ein paar Sekunden, bis ihre Augen sich zumindest soweit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dass sie – im Verbund mit ihrer Ortskenntnis – halbwegs etwas erkennen konnte. Dann erst ging sie, vorsichtig und mit langsamen Schritten, um nicht zu stolpern, weiter.
Es roch nach Holz und Heu, wie immer. Aber heute mengte sich noch etwas anderes in den gewohnten Duft. Es war Thelma schon vorhin aufgefallen, als sie auf
ihn
aufmerksam geworden war. Doch da war dieses andere noch nicht so stark gewesen wie jetzt. In der Zwischenzeit hatte es den üblichen Geruch beinahe überlagert – oder sogar verdrängt.
Es war zum einen der Geruch von Fäulnis, aber nicht allein das. Etwas anderes ging damit einher, ein Geruch, wie er in schlechtgelüfteten Krankenzimmern vorherrschte, in denen Patienten lagen, die nicht mehr ihrer Genesung entgegen schliefen, sondern nur noch dem Ende zu siechten...
Den Becher und die Schüssel vor sich her balancierend, tappte Thelma weiter.
"Abraham?" rief sie zaghaft. "Sind Sie noch hier?"
Sie erhielt keine Antwort. Doch es rührte sich etwas. Stroh raschelte. Irgendwo. Thelma konnte nicht sagen, wo das Geräusch hergekommen war.
"Abraham, ich habe Ihnen Suppe und Milch mitgebracht!" rief Thelma weiter, und sie spürte das winzige Lächeln, das dabei auf ihrem Gesicht erschien, regelrecht. Es schob sich wie Wärme in ihre Züge, und es rührte von dem bloßen Gefühl her, etwas Gutes zu tun und dafür wenigstens einen dankbaren Blick zu ernten. Es war so viel mehr als alles, was ihr das Leben mit Joe gab.
Joe...
Sie hatte einmal erlebt, wie er mit einem Landstreicher umgesprungen war, der in ihrer Scheune Unterschlupf gesucht hatte. Wenn der Fremde nicht irgendwoher die Kraft genommen hätte, sich blutüberströmt vom Boden aufzuraffen und zu laufen, so schnell es sein zerschundener Körper eben noch zuließ, hätte er sich keine Gedanken mehr darüber machen müssen, wo er diese und die nächsten Nächte verbringen sollte. Er hätte auf ewig ein trockenes Plätzchen sechs Fuß unter der Erde gefunden...
Und so hatte Thelma auch diesem Abraham geraten, besser zu verschwinden, als sie ihn am Abend zwischen Strohballen gefunden hatte. Aber der unglaublich alt aussehende Mann hatte nicht einmal mehr die Kraft gehabt, aufzustehen, geschweige denn einen Schritt aus der Scheune hinauszutun. Und so hatte Thelma den Alten, der ganz offensichtlich todkrank war und der sich ihr nur als Abraham vorgestellt hatte, angewiesen, sich absolut ruhig zu verhalten. Und sie hatte ihm versprochen, ihm später etwas zu essen zu bringen.
Da war sie nun also – aber wo war Abraham?
Inzwischen konnte Thelma ein klein wenig besser sehen. Ihre Augen nutzten das dunkelgraue Licht, das durch die wenigen Fensterchen und die Lücken in der Bretterwand hereinfiel. Sie erkannte mehr und mehr Konturen von allerlei Gerätschaften, die hier aufbewahrt wurden, und die kantigen Umrisse aufgestapelter Strohballen –
– und einen Schatten, der flatternd durch einen der einfallenden Lichtstreifen taumelte!
Beinahe hätte Thelma aufgeschrien und – schlimmer noch – Schüssel und Becher fallengelassen.
Doch dann schalt sie sich eine Närrin.
"Nur eine Fledermaus", beruhigte sie sich selbst. "Seit wann fürchtest du dich vor diesen kleinen Tierchen?"
Bisher hatte sie dazu tatsächlich keinen Grund gehabt.
In dieser Nacht jedoch änderte sich das...
"Ich bin hier."
Der Ruf kam von hinten, und obwohl es die Stimme Abrahams sein musste, konnte Thelma es kaum glauben. Sie klang verändert. Kräftiger und –
– bedrohlich?
Eine Sekunde später ließ Thelma dann tatsächlich die Suppenschüssel und den Becher mit der Milch fallen.
Und sie schrie auch auf.
Was allerdings weniger daran lag, dass Abraham wie aus dem Nichts hinter ihr aufgetaucht war.
Und auch nicht daran, dass er immer noch so aussah, als hätte er zumindest die letzten drei Nächte in einem zugeschaufelten Grab verbracht.
Sondern in allererster Linie an den beiden fast fingerlangen Eckzähnen, die aus seinem Oberkiefer staken!
Dass Abraham sie packte, ihren Kopf zurückbog und seine Hauer in ihren Hals schlug, merkte Thelma kaum. Der Schock wirkte in ihr wie eine Narkose.
Sie wunderte sich lediglich mit dem allerletzten Rest ihres zerfließenden Bewusstseins ein ganz kleines bisschen darüber, dass ihr Schrei zu einem wohligen Seufzen gerann.
Die wuchtige Bohlentür schlug hinter ihm dumpf ins
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