Weinland & Stahl
eines!
Die Mutter Oberin saß hinter ihrem wuchtigen Schreibtisch inmitten des Raumes, dessen Wände hinter deckenhohen und schwerbeladenen Bücherregalen verschwanden, wodurch das Büro noch kleiner schien als es ohnehin schon war. Und so beschränkte sich Flannagans erregtes Auf- und Abtigern auf zwei Schritte hin und zwei Schritte her, was der Geste viel von ihrer Wirkung nahm.
Die Ehrwürdige Mutter musterte ihn schweigend und natürlich immer noch lächelnd, als könnte sie überhaupt nicht verstehen, was den Monsignore so erregte.
Er blieb stehen, musterte sie und verbesserte sich im stillen: Nein, es war nicht so, als
könnte
sie es nicht verstehen. Sie verstand es
tatsächlich
nicht. Und damit ergänzte Jacob Flannagan seine imaginäre Liste von Merkwürdigkeiten, die ihm in diesem Kloster aufgefallen waren, im Geiste um einen weiteren Punkt.
"Ehrwürdige Mutter, wie könnt Ihr –", er rang sekundenlang nach Worten und fand sie doch nicht, "–
so etwas
dulden in diesen heiligen Mauern?"
Sie sah ihn verwundert an und erwiderte mit dem milden Lächeln, das man einem unverständigen Kleinkind schenkt: "Monsignore, was bringt Euch nur so in Rage?"
"Was mich in Rage bringt?" versetzte er mit fast überkippender Stimme. "Ehrwürdige Mutter! Eine Eurer Schwestern hat ein Kind geboren! Und Ihr duldet nicht nur das, sondern erlaubt auch noch, dass sie es hier aufzieht!"
"Natürlich", sagte die Oberin. "Was sollten wir denn sonst tun?"
Flannagan verdrehte die Augen himmelwärts, als erhoffte er sich von dort Beistand.
"Das, was in solchen Fällen immer geschieht: Das Kind muss verschwinden! Bringt es fort an einen Ort, wo es wohlbehütet aufwachsen kann."
"Dieses Kind", erwiderte die Ehrwürdige Mutter bestimmt, "ist nirgends besser aufgehoben als hier. Es wird hier aufwachsen – unter der Obhut seiner Mutter und unter der unseren."
"Herr im Himmel!" ließ sich Flannagan hinreißen auszurufen. "Was ist nur in Euch gefahren? Ich erkenne Euch nicht wieder!"
Das Lächeln der Oberin veränderte sich ein klein wenig. Zu der Milde gesellte sich etwas Hintergründiges, etwas Wissendes – und Gefährliches?
"Vielleicht ist tatsächlich etwas in mich gefahren", meinte sie dann. "Etwas Wunderbares, Monsignore."
"Was?"
"Etwas, das mir
der Herr
", ihr seltsames Lächeln wies auf nicht zu beschreibende Weise nach oben und ihre Betonung kam einem Frevel gleich, "nie geben konnte."
"Wovon redet Ihr bloß? Mir scheint, der Teufel ist in Euch gefahren, Mutter!"
"Wer weiß das zu sagen", lächelte die Oberin. "Auf jeden Fall ist dieses Kind etwas ganz Besonderes, und wir können es nur als Geschenk und Gnade bezeichnen, dass es uns gegeben wurde. Dass wir damit betraut wurden, es zu hüten und großzuziehen."
Der Geistliche schnaubte erbost, und das Funkeln seiner Augen war Ausdruck größeren Zorns, als es alle Worte sein konnten.
"Ich weigere mich, mir das noch länger anzuhören", sagte er mit gezwungen ruhiger Stimme. "Ihr wisst, dass ich diesen ungeheuerlichen Vorfall an unseren Bischof weitermelden muss, der sich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nach Rom wenden wird. Und nach Eurem Verhalten von eben sehe ich keinerlei Anlass, Gnade vor Recht ergehen zu lassen."
"Tut, was Ihr nicht lassen könnt", entgegnete die Ehrwürdige Mutter, während sie sich bereits erhob und zur Tür ging, die in all den Bücherborden ringsum kaum auffiel. "Mich entschuldigt jetzt bitte. Unser Sohn braucht mich."
Sprach's und verschwand.
Zurück blieb ein völlig fassungsloser Jacob Flannagan, der das Gefühl hatte, der Boden müsste sich unter ihm auftun, um ihn zu verschlingen.
Einen Moment lang wünschte er sich wahrhaftig, es würde geschehen.
Doch dann, als er nach Minuten immer noch an derselben Stelle stand, machte er sich auf, um zu tun, was getan werden musste, wenn er verhindern wollte, dass in
Saint Catherine's
weiterhin an den Grundfesten allen kirchlichen Seins gerüttelt wurde.
Und das wollte er.
Nicht nur, weil es seine Pflicht war.
Sondern weil er es allem, woran er ein Leben lang geglaubt und für das er gearbeitet und vieles geopfert hatte, schuldig war.
Jacob Flannagan beglückwünschte sich zu seiner Gewohnheit, seine Sachen erst vor dem Zubettgehen aus dem Koffer zu räumen. So konnte er sich jetzt das Einpacken ersparen.
Keine Minute länger als unbedingt nötig wollte er in
Saint Catherine's
verweilen und womöglich Gefahr laufen, sich noch ärgere Ungeheuerlichkeiten gefallen
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