Weinrache
mit Kinderwagen vorbei. »Das macht mir zu schaffen. Ein kaltblütiger Killer läuft frei herum.«
»Eiskalt, du sagst es!« Milano betrachtete sie mit düsterer Miene, die ihm gut stand. Er bekam etwas Melancholisches, wenn er auf die Scherze und Grimassen verzichtete. »Ist alles ausgelöscht, was du in deinem Beruf gelernt hast? Einen bewaffneten Täter allein zu verfolgen, das war sträflicher Leichtsinn!«
Norma schnaufte ärgerlich. »Immerhin habe ich euch die Mönchskutte geliefert!«
»Und was, wenn du den Kerl beim Umziehen erwischt hättest?«, mischte sich Wolfert ein.
»Das ist allein meine Sache. Ich muss mein Verhalten nicht vor euch rechtfertigen.«
»Schade, dass du nicht mehr im Team bist, Norma.«
Ausgerechnet Wolfert sagte das. Sie waren mehrmals aneinander geraten. Meistens wegen unterschiedlicher Auslegungen der Gesetzeslage. Wolfert war ein Pedant, und Norma hatte manche Bestimmungen zugunsten der Betroffenen gern großzügiger ausgelegt. Wobei die Betroffenen sowohl Opfer als auch Täter sein konnten.
»Ich habe nie kapiert, warum gerade du die Polizei verlassen hast«, fügte er hinzu.
Sein Bedauern klang aufrichtig und stimmte sie versöhnlich. Bevor sie antworten konnte, schob sich eine Gruppe junger Leute vor beide Männer, und als der Blick wieder frei war, hatten sich die Polizisten abgewandt. Norma blickte ihnen nach, dem massigen Milano in seinem wiegenden Gang und dem dürren Wolfert, bevor sie sich aufmachte, um ihren Platz im Stand für die letzten Stunden einzunehmen.
Ade, grüne Soße! Ab morgen war sie wieder die Private Ermittlerin Norma Tann.
Ihr neues freies Leben.
8
Montag, der 21. August
Norma begann den Tag mit Schreibtischarbeit. Ihr Büro war einst ein Blumenladen, und die ursprüngliche Nutzung verrieten der erdbraune Fliesenbelag und die Schaufensterfront. Der Raum lag im Erdgeschoss eines uralten Hauses, unter dessen Dach sie seit einem Vierteljahr wohnte. Das Büro war ein Glücksfall, ebenso wie die Dachwohnung so nahe am Rhein. Eine größere Wohnung hätte sie sich nicht leisten können, aber sie war keinen Kompromiss eingegangen, sondern fühlte sich ausgesprochen wohl darin. Es gab nur zwei weitere Bewohner: Die Vermietern Eva Vogtländer, eine pragmatische Lehrerin, die ihre Wochenenden und einen Teil der Ferien bei ihrem Freund in Köln verbrachte, und den Kartäuserkater. Zum einen fand Eva es schick, eine Privatdetektivin zu beherbergen. Doch in erster Linie hatte Norma es Leopold zu verdanken, dass Eva das Risiko unregelmäßiger Mieteinnahmen einging. Bei der ersten Besichtigung hatte sich der Kater schnurrend an Normas Waden geschmiegt, und ihr Versprechen, ihn mit Futter und Aufmerksamkeit zu versorgen, wenn Eva in Köln war, gab den Ausschlag.
So war Norma hinunter an den Rhein nach Biebrich gezogen. Ihr gefiel dieser lebendige Stadtteil Wiesbadens. Sein Ursprung als unabhängige Kleinstadt ließ sich noch deutlich am Ortskern ablesen. Bescheidene Bürgerhäuser umsäumten einen weitläufigen Park aus dem frühen 18. Jahrhundert. Das Schloss darin glänzte mit einer vollendeten Symmetrie. In den folgenden Jahrhunderten siedelte sich am Rheinufer in Richtung Amöneburg die Industrie an, und es entstanden Straßenzüge mit Mietshäusern, deren Bewohner heute für eine bunte Mischung verschiedener Nationalitäten und Kulturen sorgten. Wenn Norma vom Schreibtisch aufsah, fiel ihr Blick auf die Menschen, die das Schaufenster passierten, um ihren Besorgungen nachzugehen oder durch den Schlosspark oder entlang des Rheinufers zu spazieren.
An diesem Vormittag blickte Norma sehr oft von ihrer Arbeit auf. Sie konnte sich nur schwer auf den Bericht konzentrieren, der ebenso langweilig war wie das Vergehen des Ehemannes, der in Wirklichkeit als einsamer Wolf durch die Wiesbadener Kneipen gezogen war, anstatt sich, wie seine Frau vermutete, mit einer Geliebten zu vergnügen. Norma hatte ihre Auftraggeberin über die Unschuld des Gatten unterrichtet, bevor sie den Job auf dem Weinfest antrat. Die Zweifel der Frau waren so leicht nicht zu beheben. Sie verlangte ein lückenloses Protokoll, und so tippte Norma ihre Aufzeichnungen sorgfältig in eine Tabelle. Zwischendurch versuchte sie mehrmals, ihre Mutter anzurufen, die nach der Stallarbeit gewöhnlich in die Küche ging, um das Mittagessen vorzubereiten. Beim dritten Versuch nahm die Mutter ab.
»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte Norma.
»Wenn du dich monatelang nicht meldest, brauchst du
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